[TU Berlin] Medieninformation Nr. 233 - 28. Oktober 2003 - Bearbeiter/in: stt
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THG-Dopingskandal zeigt: Dopingliste verführt zu "Menschenversuchen“

TU-Gesundheitsökonom Wagner fordert Medikamentenpass für Spitzensportler

Ein Doping-Skandal in einem von Laien ungeahnten Ausmaß überzieht die Sportwelt. Zu bekannten Wirkstoffen wie Ephedrin, Coffein, Clenbuterol, Erythropoietin (EPO) ist jetzt das Designer-Steroid Tetrahydrogestrinon (THG) gekommen – die Liste der für Spitzensportler im Training und bei Wettkämpfen verbotenen Arzneimittel wird immer länger. Aber Athleten sind schwer vom Doping abzubringen – mit THG haben sich viele offenbar sogar zu menschlichen Versuchskaninchen gemacht. Für die Praktiker der Doping-Bekämpfung kam das nicht überraschend (Doping-Analytiker Klaus Müller: "Die Entwicklung war unausweichlich.“).

Ethische Argumente wie etwa "Doping ist ungesund“ ziehen bei Spitzen-Athleten nicht. Wie auch? Denn Leistungssport an sich ist alles andere als gesundheitsfördernd. Eine Überbelastung des Immunsystems, Gelenkschäden und damit verbundene Schmerzen sind die Regel.

"Doping ist unfair“ ist ein beliebtes Argument der Sportfunktionäre. Aber gibt es überhaupt Chancengleichheit im Sport? In reichen Ländern haben Sportler optimale Trainingsmöglichkeiten und bessere medizinische Betreuung als in ärmeren. Zudem hängt der Erfolg in den meisten Disziplinen heute wesentlich von Ausrüstung und Material ab. Athleten glauben längst nicht mehr an Fairness im Sport – die Norm vom "sauberen Sport“ ist auch deswegen zerstört, weil die Doping-Liste mit zur Zerstörung beigetragen hat. 

Die bestehende Dopingliste ist eine "Negativliste“ und die setzt falsche Anreize. Prof. Dr. Gert G. Wagner, TU Berlin und Berliner Zentrum für Public Health (BZPH), schlägt deshalb vor, die Dopingliste ersatzlos zu streichen und statt dessen einen Medikamentenpass einzuführen, in dem alle Substanzen aufgeführt sind, die der Sportler einnimmt. Damit entfällt der Anreiz, ständig neue Mittel zu suchen und zu verwenden, bis diese auf die Dopingliste kommen. Probiert ein Athlet etwas Neues aus, wird es sofort öffentlich, und auch die Konkurrenz kann davon profitieren. Kontrollen müssten weiterhin stattfinden. Bestraft würde künftig derjenige, der heimlich etwas einnimmt, das er nicht deklariert, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ein sinnvoller Beitrag zur Fairness im Sport. Mediziner fürchten um den Datenschutz, und auch Sportfunktionäre scheuen diese Lösung, denn eine Frage ist noch ungeklärt: Wie wird der Zuschauer reagieren, wenn er erfährt, was die Sportstars wirklich alles schlucken, um zu siegen? 

Aber, so Prof. Wagner, ohne diese radikale Transparenz habe die Norm des sauberen Sports keine Chance mehr. Denn die Doping-Liste habe faktisch zu der Norm geführt, dass Sportler überzeugt sind, alles nehmen zu können, was nicht auf der Liste steht und/oder nicht nachgewiesen werden kann. Beispielsweise Aspirin wird als Blutverdünner ebenso mißbraucht wie scheinbar harmlose Nahrungsergänzungsmittel (Substitute). So etwa Kreatin – eine Vorstufe des körpereigenen Energielieferanten ATP –, das durch Leistungssport übermäßig verbraucht wird. Normalerweise wird Kreatin mit der Nahrung (Fleisch und Fisch) aufgenommen. Es steht zwar nicht auf der Liste, dient aber offenbar einer unnatürlichen Leistungssteigerung. Wie soll ein Athlet angesichts einer derartigen Grauzone, die die Doping-Liste erzeugt, noch an fairen und sauberen Sport glauben? "Ohne eine radikale Änderung der Regeln wird THG nicht die letzte Designer-Droge sein, mit der sich Sportler schädigen“, meint Prof. Wagner. 

Hintergrund

Für Prof. Dr. Gert G. Wagner ist das Entscheidungskalkül, das hinter dem Doping steht, ein klassisches Problem der Wirtschaftswissenschaften. Mit der so genannten Spieltheorie analysieren Ökonomen das Verhalten von Personen in Problemsituationen. Für Sportler lautet die Frage schlicht: Dopen oder nicht dopen? Eine Entscheidungssituation, für die es verschiedene Lösungen gibt. Die beste wäre natürlich, dass die Wettkämpfer kooperieren und sich darauf verständigen, grundsätzlich auf jegliches Doping zu verzichten. Körperliche Schäden durch die Wirkstoffe würden vermieden, und keiner hätte einen Vorteil. Doch das ist eine Illusion. In der Realität ist es für den Sportler vorteilhafter, leistungssteigernde Mittel zu nehmen. Denn dopt der Konkurrent, wäre der "cleane“ Sportler ihm von vorn herein unterlegen. Nimmt der Gegner nichts, bringt Doping einen Vorteil. Fragt man Leistungssportler ganz privat, glaubt ohnehin kaum noch einer an cleane Konkurrenz.

Literatur 

Gert G. Wagner, Obligatorische Medikamentendeklaration – Theorie und Implementierung einer anreizkompatiblen Dopingbekämpfungsstrategie, in: W. Hartmann und C. Müller-Platz (Redaktion), Sportwissenschaftler und Sportwissenschaftlerinnen gegen Doping, Wissenschaftliche Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Bd. 7, Köln 2002, S. 49-54. (Den Beitrag können wir Ihnen auf Anfrage (Tel.: 030/314-23922) per E-Mail zustellen.)


Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne: Prof. Dr. Gert G. Wagner, Technische Universität Berlin, Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin, E-Mail: g.wagner@ww.tu-berlin.de, Tel.: 030-89789283 oder -290
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