TU intern - April 2001 - Aktuelles

Nachgefragt

Neue Arbeitsplätze durch Überstundenabbau?

"Es ist zu hoffen, dass die Arbeitnehmer insgesamt genügend Solidarität aufbringen, dass sie dem Drängen der Arbeitgeber auf immer mehr Überstunden Widerstand leisten ..."
Prof. Dr. Jürgen Kromphardt

Schon seit Jahren diskutieren Gewerkschaften und Arbeitgeber, ob sich durch den Abbau von Überstunden neue Arbeitsplätze schaffen lassen. Die zu Jahresbeginn von der Bundesanstalt für Arbeit veröffentlichte Zahl der Überstunden für das vergangene Jahr hat die Debatte erneut entfacht. 1,85 Milliarden bezahlte Überstunden leisteten die deutschen Arbeitnehmer im letzten Jahr. Demgegenüber stehen 3,5 Millionen Arbeitslose.

Würden die Unternehmen nur ein Drittel der Überstunden abbauen und ein weiteres Drittel durch Freizeit ausgleichen, könnten mindestens 400000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, meint IG Metall-Chef Klaus Zwickel. Die Arbeitgeber hingegen bezweifeln entschieden, dass sich auf diesem Weg die Arbeitslosigkeit nachhaltig senken lässt, und bezeichnen Überstunden als "unverzichtbare Flexibilitätsreserve". Ist der Ansatz der Gewerkschaften nur eine Milchmädchenrechnung oder eine echte Chance im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit? Was ist zu tun? TU intern befragte dazu Jürgen Kromphardt, Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der TU Berlin und Sachverständiger im Rat der Weisen (Rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung).

Herr Kromphardt, in welchen Bereichen wäre es denkbar, Überstunden zu Gunsten von neuen Arbeitsplätzen abzubauen? Wie viele Arbeitsplätze ließen sich, realistisch betrachtet, dadurch neue schaffen?

Grundsätzlich ließen sich überall Überstunden zu Gunsten von neuen Arbeitsplätzen abbauen, sofern genügend geeignete Arbeitskräfte vorhanden sind, um diese Arbeitsplätze zu besetzen. Insbesondere im Bereich hochqualifizierter Arbeitskräfte dürfte dies jedoch an Grenzen stoßen. Daher lassen sich mit Sicherheit nicht alle Überstunden abbauen. Eine Halbierung wäre vorstellbar, wodurch hunderttausend Arbeitsplätze neu geschaffen würden.

Mit welchen Maßnahmen könnte man Arbeitgeber dazu bringen, Überstunden abzubauen und dafür Arbeitsplätze zu schaffen?

Man könnte in den Tarifverhandlungen die Zuschläge für Überstunden weiter erhöhen, sodass die Überstunden für die Arbeitgeber teurer würden. Allerdings würden sie dadurch für die Beschäftigten noch attraktiver, die häufig schon jetzt gerne das Mehreinkommen durch Überstunden mitnehmen. Dies gilt insbesondere für weniger gut bezahlte Arbeitskräfte, die Arbeiten verrichten, für die auf dem Arbeitsmarkt noch genügend geeignete Anwärter für zusätzliche Arbeitsplätze verfügbar sind. Ein weiteres Hindernis für die Einstellung neuer Arbeitskräfte besteht darin, dass die Unternehmer nicht sicher sind, ob die derzeitig benötigten Arbeitsstunden auch in Zukunft benötigt werden. Für einen Abbau von Überstunden müssen die Unternehmen daher optimistisch in die Zukunft blicken und auf eine Fortsetzung der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung vertrauen. Dazu könnte die Europäische Zentralbank durch eine gute Geldpolitik und die Bundesregierung durch eine gute Wirtschafts- (insbesondere Fiskal-) politik beitragen.

Angenommen, ein generelles Verbot von Überstunden ließe sich durchsetzen - welche Folgen hätte das für den Arbeitsmarkt?

Diese Frage ist rein hypothetisch. Die Folge wäre in vielen Bereichen ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, der zu Forderungen nach erhöhter Immigration (nach dem Modell der Green Card-Verordnung der Bundesregierung) führen würde. Darüber hinaus würden sicherlich die Weiterbildungsaktivitäten der Unternehmen und der Beschäftigten beflügelt, denn die Unternehmen könnten es sich nicht mehr leisten, bewährte, ältere Arbeitskräfte zu entlassen oder gar nicht erst einzustellen. Vielmehr müssten sie diese soweit qualifizieren, dass sie im modernen Produktionsprozess eingesetzt werden können.

Sollte der Staat überhaupt in die unternehmerische Freiheit eingreifen?

In einer Marktwirtschaft ist der Staat aufgerufen, die Rahmenbedingungen zu setzen, innerhalb derer der Wirtschaftsprozess abläuft. Dies geschieht z. B. durch umweltpolitische Vorschriften, durch steuerliche Regelungen, durch Arbeitsschutzregelungen und durch zahllose andere Vorschriften mehr. Innerhalb des vom Staat im gesamtgesellschaftlichen Interesse gesetzten Rahmens haben dann die Unternehmer die Freiheit, ihre Investitions- und Produktionsentscheidungen unter Renditegesichtspunkten zu treffen.

Wohin entwickelt sich der Arbeitsmarkt ohne politisches Eingreifen? Werden in Zukunft "wenige" völlig überarbeitete Arbeitnehmer einem Heer von Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeitern gegenüberstehen?

Wenn bezüglich der Überstunden keine gesetzgeberischen Maßnahmen getroffen werden (wie es zu vermuten ist), so hängt die Entwicklung entscheidend vom Verhandlungserfolg der Arbeitnehmer und ihren Interessenvertretungen, den Gewerkschaften, ab. Die Arbeitnehmervertreter befinden sich dabei in einem Dilemma: Zum einem möchte der einzelne Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz hat, häufig von gut bezahlten Überstunden profitieren. Auf der anderen Seite wäre es im Interesse der Gesamtheit der Arbeitnehmer, dass die Arbeitslosigkeit reduziert wird, wodurch sich die Arbeitsmarktposition aller Arbeitnehmer verbessert. Es ist zu hoffen, dass die Arbeitnehmer insgesamt genügend Solidarität aufbringen, dass sie dem Drängen der Arbeitgeber auf immer mehr Überstunden Widerstand leisten und dadurch die Unternehmer zwingen, von der für sie bequemsten Lösung zu einer gesamtwirtschaftlich besseren Lösung überzugehen.

Das Gespräch führte Bettina Micka


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