7-9/04
Juli 2004
 
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Das dörfliche Licht

Eine technikethnologische Fallstudie über Nordchina

 
  In ihrer Jugend spann diese Chinesin mit ihren Nachbarinnen Garn unter einer Öllampe. Jetzt erhellt eine 15-Watt-Birne ihr Zimmer

Als Xiujie Wu im April dieses Jahres aus China nach Berlin zurückkehrte, fiel ihr etwas besonders auf - überall die blendend hellen Beleuchtungen. In den vergangenen sechs Wochen hatte sie die Abende zumeist bei schummrigem Kerzenlicht verbracht und war des Nachts auf stockfinsteren Dorfwegen gelaufen. Ihre Forschungsarbeit hatte sie in zwei Dörfer bei Dingzhou in der nordchinesischen Provinz Hebei geführt. Dort arbeitete sie zu ihrer Dissertation "Ein Jahrhundert Licht im Alltag. Eine technikethnologische Fallstudie zur Beleuchtung in Nordchina". Diese Feldforschung fand im Rahmen des VW-Projekts "Alltagstechniken Chinas" an der TU Berlin statt, in dem sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist.
Vor zwei Jahren hatte sie zunächst noch Ambitionen, einer anderen zentralen Fragestellung des Alltags nachzugehen, nämlich der Zeitorientierung und zirkadianen Rhythmik der Chinesen. Im Laufe der Projektarbeit aber, betreut von der Projektleiterin Privat-Dozentin Dr. Mareile Flitsch und Prof. Dr. Wolfgang König, empfahl sich die Beschäftigung mit der Rolle des Lichts im Alltag.

Ohne eine fundierte Forschung zu den menschlichen Schlafgewohnheiten kann man kaum die zirkadiane Rhythmik einer Gesellschaft erfassen. In Ethnologie und Anthropologie gibt es bislang weder theoretische Grundlagen noch empirische Forschungen zu Schlafgewohnheiten, abgesehen von wenigen Beiträgen wie der Dissertation von Brigitte Steger zu Schlafgewohnheiten in Japan (s. Buchtipp). Technikethnologisch gesehen sind Arbeits-Ruhe- und Schlaf-Wach-Rhythmen Folge der Zeitgestaltung des Alltags. Eine technisch und ökonomisch günstige Beleuchtung ist für eine freizügige Zeitgestaltung unverzichtbar. So ist Xiujie Wus Erforschung der Beleuchtung ein erster Schritt zu weiteren Untersuchungen der Organisation und Gestaltung von Zeit im Alltag.

Inzwischen führte Xiujie Wu zwei Feldforschungen in "ihren Dörfern" durch. Interviews mit alten Menschen gaben einen Überblick über praktische Aspekte der Anwendung diverser Beleuchtungstechniken. Noch immer sind die Dorfbewohner auf einen sparsamen, pragmatischen Umgang mit Beleuchtungsmitteln angewiesen. Viele Gespräche stützen die These, dass bei Neuformierung und Desintegration sozialer Gemeinschaften die Beleuchtung eine wesentliche, wenngleich nicht die einzige Rolle spielt. Auch strukturiert das elektrische Licht die Geschlechterrolle im Alltag um: Durch den "technischen" Anspruch der Glühbirne ist die Beleuchtung zwischenzeitlich von einer Frauen- zu einer Männersache geworden.

Reizvoll wäre für Xiujie Wu eine umfassende Ethnografie des Alltags in beiden Dörfern, wobei zentrale Techniken wie die Elektrifizierung, Radio und Fernsehen, Wasserpumpen und so weiter als roter Faden der Beobachtung dienen könnten. Nur wenn das Dorfleben als Ganzes betrachtet wird, können die vielen Details geordnet und plausible Interpretationen abgeleitet werden. Der Sinn einer solchen Fallstudie läge noch darin, weitere spannende Fragestellungen zu formulieren, wie: Warum Petroleum als ein ausländisches Produkt problemlos in den Alltag der Dorfbewohner eindringen konnte, aber aus Tempeln und Ritualen verbannt blieb?

tui

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