1/05
Januar 2005
 
TU intern
1/2005 als
pdf-Datei
(1,3 MB)
 Themenseiten 
Titel
Inhalt
Aktuell
Innenansichten
Lehre & Studium
Forschung
Alumni
Internationales
Menschen
Vermischtes
Impressum
TU-Homepage

Ursache und Wirkung vertauscht

Wie die deutsche Schule Chancengleichheit auch für Migrantenkinder fördern kann

Unterricht in einer Klasse mit hohem Ausländeranteil (Reginhard-Grundschule, Berlin)
Foto: TU-Pressestelle

In den letzten Wochen dominierte der Begriff "Parallelgesellschaft" die mediale und politische Öffentlichkeit. Die Diskussionen konzentrierten sich auf die "Erkenntnis" einer bisher verfehlten Integrationspolitik sowie des Scheiterns der multikulturellen Gesellschaft. Die Schuld wurde den Ausländern angelastet: Sie seien integrationsunwillig, lernten nicht Deutsch und schotteten sich ab.

Fakt ist, dass viele Migranten in Deutschland sehr unzureichend Deutsch sprechen, überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ihr Anteil an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen unterproportional niedrig ist und Rückzugstendenzen in die ethnischen Gemeinschaften zu beobachten sind. Fakt ist aber auch, dass in Deutschland in der "Ausländerfrage" häufig Ursache und Wirkung miteinander vertauscht werden, besonders was die Bildungssituation von Migranten anbelangt.

In traditionellen Einwanderungsländern wie Kanada, USA oder Australien stellen Bildungsinstitutionen wie Kindergarten, Schule, Hochschule das Instrument zur gesellschaftlichen Integration von Neubürgern dar.

Sehen wir nach Deutschland: Ein Drittel der Schüler mit Migrationshintergrund verlässt im Bundesdurchschnitt die Schule ohne einen Schulabschluss, über 40 Prozent mit dem Hauptschulabschluss. Lediglich 10 Prozent machen Abitur und können studieren. Bei deutschen Schülern sind diese Zahlen genau umgekehrt.

Die Erklärung liefert die PISA-Studie. In Deutschland korreliert der Bildungserfolg eng mit dem sozialen Status der Schüler und determiniert ihre schulische Biografie. Da der überwiegende Teil der Migrantenfamilien den sozial schwächsten Schichten zuzurechnen ist, sind deren Kinder die hauptsächlichen Verlierer des deutschen Bildungssystems. Die deutsche Schule hat sich in den letzten vier Jahrzehnten nicht von ihrem "monokulturellen Habitus" gelöst.

Nach wie vor entstammen die Lehrkräfte überwiegend der deutschen Mehrheitsgesellschaft, werden für monokulturelle Schulen mit monolingualen Schülern ausgebildet, die in der Realität nicht existieren. Themen wie "Mehrsprachigkeit, Spracherwerb unter migrationssoziologischen Bedingungen, interkulturelle Ausrichtung von Schule und Unterricht" tauchen an den meisten Universitäten allenfalls marginal auf. Die angehenden Lehrer fühlen sich unvorbereitet und überfordert.

Die administrativen und amtlichen Erlasse der Berliner Bildungspolitik der 1990er-Jahre zeigten keinerlei institutionellen Wandel in den Bereichen "Beschulung von Migrantenkindern, Sprachförderunterricht, Präsenz der Migrantensprachen im Schulunterricht und interkulturelle Ausrichtung des Unterrichts". Die Handlungsmaxime der Bildungspolitik bestand in der Bewahrung des Status quo.

Die Existenz von Schülern unterschiedlicher kultureller, religiöser und sprachlicher Herkunft wurde nicht als Bereicherung empfunden, sondern als eine Belastung. Bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre wurden schulische Modelle der unterrichtlich-organisatorischen Segregation bevorzugt wie die Ausländerregelklassen, obwohl Wissenschaftler deren integrationspädagogischen Nutzen längst bezweifelten und ihre Abschaffung forderten. An den institutionellen Rahmenbedingungen für die Lehrerausbildung wurde in Berlin nichts verändert.

Erst seit 2001 - auf massiven, durch die PISA-Ergebnisse bedingten öffentlichen Druck - ist die schulische Integration von Migrantenkindern zu einem zentralen bildungspolitischen Thema geworden. Mittlerweile findet an vielen Kindertagesstätten Sprachförderunterricht statt. Auch wird vor der Einschulung ein flächendeckender Test zur Feststellung der Deutschkenntnisse durchgeführt.

Weitere Schritte müssen nun folgen, wie die verbindliche Aufnahme der Bereiche "Spracherwerb, Migrationssoziologie und gesellschaftlich-kulturelle Pluralität" in die universitäre Lehrerausbildung.

Vor allem muss das deutsche Bildungssystem endlich von diskriminierenden Maßnahmen wie der getrennten Beschulung oder der vorschnellen Zuweisung von Migrantenschülern in Sonderschulen wegkommen, um wirklich Chancengleichheit zu schaffen.

Eine leistungsstarke und international wettbewerbsfähige deutsche Schule kann nur gelingen, wenn sie darauf abzielt, alle Schüler, unabhängig von der kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit, zu fördern.

Dr. Havva Engin,
Institut für Erziehungswissenschaft

"Weit entfernt von ihrer Lebenswelt"

Rassismus in deutschen Schulen

Zu Beginn des neuen Schuljahres im September fragte mich ein aus dem Mittleren Osten stammender Zehntklässler eines Berliner Gymnasiums, ob ich glaube, dass in Deutschland Rassismus existiere. Er sei niemals Zeuge oder Opfer von Rassismus geworden. Das verblüffte mich völlig. Im Rahmen des Bundeskanzlerstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung bin ich aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland an das Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Berlin gekommen, um Studien zur "Interkulturellen Erziehung" an Berliner Schulen durchzuführen. Ich hatte angenommen, die meisten Menschen würden sich die Existenz von Rassismus in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten eingestehen. Mich interessierte, mit welchen Mitteln sich Schulen in Berlin mit den Auswirkungen von Rassismus auseinander setzen und was sie für die Integration von Schülern mit nichtdeutschem Hintergrund tun.

Tatsächlich hielten viele Schüler, die meisten von ihnen deutscher Abstammung, den Rassismus in Deutschland für ein Randphänomen und für überwunden.

Ich untersuchte durch "teilnehmende Beobachtung" und Interviews ein Gymnasium und eine Hauptschule, jeweils in einer ethnisch vielfältigen Umgebung gelegen. Die Gymnasiasten nahmen die Mulitkulturalität positiv wahr: Sie können Döner und Schawarma essen, haben Kontakt zu Schülern anderer kultureller Herkunft und entwickelten ein "tolerantes", "kosmopolitisches" Selbstbild. An der Hauptschule gibt es kaum noch deutsche Schüler, da deutsche Eltern ihre Kinder aufgrund des hohen Ausländeranteils auf andere Schulen schicken. Die dortigen Schüler nahmen Berlin als multikulturell wahr. Sie werden mit größerer Wahrscheinlichkeit mit Rassismus und Konflikten zwischen unterschiedlichen Kulturen konfrontiert werden.

Ein Großteil der Lehrerschaft ist fokussiert auf Wissensvermittlung und hat weder einen klaren Standpunkt zu interkultureller Erziehung, noch messen sie ihr besondere Bedeutung bei. Sie erkennen mitunter Defizite ("Mir fällt kein guter Grund ein, warum ein türkischer oder polnischer Schüler sich für den Investiturstreit interessieren sollte. Wir sind zu weit weg von ihrer Lebenswelt.") und sind mitunter bereit, andere kulturelle Werte mit in den Unterricht aufzunehmen. Doch das bezeichnenderweise eher beiläufig und mit der Tendenz, das Exotische und Oberflächliche anzusprechen. In den Interviews wurde mir schnell klar, dass die Schülerinnen und Schüler Diskriminierungen erleiden, da die Schule und die Lehrerschaft aufgrund von fehlenden Fortbildungen nicht in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen. Das kann ein großes Hindernis für die Leistungen von Minderheitenschülern darstellen. Insgesamt scheinen Schüler und Lehrer die Multikulturalität als ein zum Scheitern verurteiltes Projekt zu betrachten.

Dr. Todd R. Ettelson,
Bundeskanzler-Stipendiat der
Alexander von Humboldt-Stiftung

© TU-Pressestelle 1/2005 | TU intern | Impressum | Leserbriefe