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November 2006
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Ein Mozart der Literatur

Goethes "kleiner Bruder" Karl Philipp Moritz beeinflusste die Berliner Bildungslandschaft

 
  In Rom hielt der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein auf einer Federzeichnung die Szene fest, als Goethe sich um den gebrochenen Arm seines "kleinen Bruders" Karl Philipp Moritz kümmerte. Tischbein malte auch das berühmte Gemälde "Goethe in der Campagna"
© Verlag der Klassikerstätten, Weimar

Rom - am 20. November 1786, vor genau 230 Jahren, begegnen sich im Land, wo die Zitronen blühen, am Sehnsuchtsort aller Gestressten, zwei deutsche Italien-Reisende: Johann Wolfgang von Goethe und Karl Philipp Moritz, ein Minister, dem das Regieren auf die Nerven geht, und ein Lehrer, der die Schulroutine hasst. Es sind zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht sein können und die sich doch sofort verstehen.

Der Geheimrat leistet dem vom Pferd gefallenen Landsmann sogar Krankenpflegerdienste am gebrochenen Arm. Sie werden Freunde. Goethe nennt Moritz seinen "jüngeren Bruder". Alle kennen Goethe, aber wer ist Karl Philipp Moritz? Er ist ein Klassiker, wie der Olympier, nur dass sein Genie erst mehr als hundert Jahre nach seinem Tod entdeckt wird.

Moritz stirbt jung - ein Mozart der Literatur -, aber sein Werk ist gigantisch. Moritz kommt von ganz unten. Am 15. September 1756 in Hameln geboren, erlebt er eine Kindheit in physischer Not und psychischer Drangsal. In der Schule lernt er Rechnen und Lesen, wodurch er sich die Welt über die Literatur zu erschließen beginnt. Seine intellektuelle Begabung zeigt sich früh. Doch der Vater schickt ihn in eine Hutmacherlehre. 1770 unternimmt Moritz einen Selbstmordversuch und erzwingt sich so den Gymnasiumsbesuch. 1776 flieht er nach Gotha, um bei Conrad Ekhof Schauspieler zu werden. Schließlich beginnt er 1777 in Erfurt und Wittenberg ein Theologiestudium und erwirbt 1779 den Magister. Nach kurzer Lehrertätigkeit in Dessau und Potsdam kommt Moritz 1779 nach Berlin, wo er als Lehrer, Journalist, Hofrat und Professor tätig wird - unterbrochen durch drei große Reisen: nach England (1782), durch Deutschland (1784) und nach Italien (1786-88).

"Der Mensch ist ganz geboren und überall wird sein Leben zerstückelt" - gegen diese empirische Erfahrung arbeitet Moritz als Literat in seinem autobiografischen Roman "Anton Reiser" als Forscher und Theoretiker an. Sein Leitmotiv wird die Suche nach der Wissenschaft vom Menschen. Er ist - trotz einer 1783 diagnostizierten Lungenkrankheit - ein überaus fleißiger Geistarbeiter, der auf vielen Fachgebieten arbeitet, forscht und publiziert. Moritz veröffentlicht mehr als 20 Bücher; als Journalist und Theaterkritiker arbeitet er für die Vossische Zeitung. Für Zeitschriften wie die legendären "Berlinischen Monatsschriften" schreibt er und häuft einen beachtlichen Nachlass an, der, in der Berliner Akademie befindlich, noch heute aufgearbeitet wird. Er hat sich mit Pädagogik, mit Sprachwissenschaft, mit empirischer Psychologie, mit Ästhetik und Kunstgeschichte, mit Altertumskunde und Mythologie, Architektur und Städtebau beschäftigt. All das sind für ihn nur Teildisziplinen jener umfassenden "Wissenschaft vom Menschen". Mit seinen sprachwissenschaftlichen Studien hat er Wilhelm von Humboldt beeinflusst. Außerdem regte ihn, den perfekt Hochdeutsch redenden Niedersachsen, der Berliner Jargon zu Studien über Dialekt, Umgangs- und Hochsprache an. Seine Ästhetik besprach er mit Moses Mendelssohn und mit Geheimrat Goethe in Italien. Johann Gottfried von Schadow, Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder gingen bei Moritz in die Schule. Er gab die erste deutsche psychologische Zeitschrift, das "Magazin für Erfahrungsseelenkunde", 1783-1793 heraus. Und er hat einen Beitrag zum Unterrichten von Taubstummen geleistet. Dieses Multitalent starb am 26. Juni 1793 in der Berliner Münzstraße 7-11. Dort erinnert heute eine Gedenktafel an ihn. Sein Grab verschwand 1848 mit der Einebnung des St.-Georgen-Friedhofs an der alten Frankfurter Straße.

Hans Christian Förster

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