tu intern+plus · nr. 2/juli 2018 perspektivwechsel seite 7 . 0 2 t d a t s e h c s i ä p o r u e l i n n a m e k n a i t s i r h c / r p / n i l r e b u t © in der leipzig-charta zur „europäischen stadt“ hatten sich 2007 politiker aller europäischen länder darauf geeinigt, wie das städtische leitbild der zukunft aussehen soll. zehn jahre später machen sich über 50 studierende aus ganz deutschland darüber her. sie finden, die charta greift zu kurz sie haben ein wörtchen mitzureden immer häufiger entwickeln stadtplaner*innen ihre entwürfe nicht im stillen kämmerlein. partizipationsinstrumente werden benutzt, um die meinung der bewohner*innen zeitnah abzufragen. urban design thinking geht noch einen schritt weiter: die an der tu berlin entwickelte methodik macht die bürgerinnen und bürger selbst zu planerinnen und planern wenn städte expandieren, dann passiert das zumindest in europa in der regel nicht planlos. stadtplaner*innen entwerfen, behör- den koordinieren und ministerien bestimmen, wohin die reise geht. doch solche von oben durchorchestrierten entscheidungsfindungspro- zesse haben ein problem: manchmal planen sie an den bewohnerinnen und bewohnern vorbei. und nicht erst stuttgart 21 hat eindrücklich vor augen geführt, dass der bürger im 21. jahrhun- dert umfangreiche mitsprache einfordert. wird er übergangen, drohen streiks, unterschriftenakti- onen und proteste. „mit der stadtentwicklung verhält es sich wie mit der entwicklung von eigentlich jedem pro- dukt und jeder dienstleistung“, weiß marcus jeutner. „ich muss mich intensiv damit ausei- nandersetzen, was meine zielgruppe möchte.“ an der tu berlin arbeitet jeutner im bereich der stadt- und regionalplanung und ist dort im team von prof. elke pahl-weber beteiligt an der entwicklung einer noch sehr jungen methode namens „urban design thinking“, die den par- tizipationsgedanken in der stadtplanung auf ein neues level hebt. denn statt die bürgerin oder den bürger nur zwischen ein paar alternativen planungsentwürfen abstimmen zu lassen, bezie- hen jeutner und seine kolleginnen und kollegen in verschiedenen forschungsprojekten die von stadtentwicklung betroffenen von anfang an in die entscheidungsfindungsprozesse mit ein. „co-creation“ heißt dieser ansatz, bei dem viele stakeholder gemeinsam ein konkretes ergebnis kreieren und testbar machen. ursprünglich kommt die methode des design thinking aus dem silicon valley. ausführliche marktstudien und nutzerbefragungen sind bei der entwicklung von digitalen tools längst üb- lich, ebenso das prototyping, also das basteln etwa eines neuen smartphones aus styropor und pappmaschee, um einen eindruck von der haptik zu erhalten, ehe man milliarden dollar in die serienproduktion investiert. auch die frage nach der zielgruppe kennt man im design thin- king schon lange: wen soll mein produkt anspre- chen – männer oder frauen, akademiker oder handwerker, introvertierte oder draufgänger? das urban design thinking wird im fachgebiet von prof. pahl-weber interdisziplinär seit fünf jahren in zahlreichen studien- und forschungs- new york, sydney, tokio, london, berlin, pa- ris: metropolen der verschiedensten art gibt es auf der ganzen welt, und überall wachsen sie. innerhalb europas allerdings haben städte auf- grund ihrer geschichte einige gemeinsamkeiten, die stadtplaner*innen berücksichtigen, wenn sie über stadtentwicklung nachdenken. das modell „europäische stadt“ beinhaltet zum beispiel ei- nen festen stadtkern, der sich meist im mittelalter um eine burg oder ähnliches gebildet hat und um den herum die stadt anfangs recht chaotisch und mit engen und verschlungenen gassen gewach- sen ist. auch eine gleichzeitigkeit von arbeiten, einkaufen und wohnen gehört zum konzept der „europäischen stadt“. solche merkmale stehen im gegensatz zu den autogerechten städten in den usa oder den planstädten, wie sie derzeit in der golf-region entstehen. die leipzig-charta zur nachhaltigen europäischen stadt aus dem jahr 2007 ist sozusagen die letz- te weiterentwicklung der „europäischen stadt“ und besteht im groben aus fünf kernpunkten: die forderung, europäische politik in den urbanen zentren stärker sichtbar zu machen. der wunsch, innenstädte vor dem durch online-shopping und malls bedingten ausfransen zu schützen. das an- erkennen der großen rolle, die städte beim kli- maschutz spielen müssen. die bereitschaft, bürger durch partizipationsverfahren an der entwicklung teilhaben zu lassen. und der wille zum „guten re- gieren“ in partnerschaft mit zivilgesellschaft und wirtschaft. das achtseitige dokument wurde von 27 in europa für stadtentwicklung zuständigen ministerinnen und ministern unterzeichnet und gilt bis heute als großer wurf. doch was der generation von heute genug ist, geht der generation von morgen oft nicht weit genug. in einer winter-school im märz 2017 haben rund 50 studierende unter anderem der tu berlin ihre kritik an der leipzig-charta formuliert und einen eigenen gegenentwurf erarbeitet. so formulieren die studierenden gleich am anfang ihres „mani- fests für den neo-europäischen raum, für eine menschengerechte entwicklung in europa“: „wir sehen uns in der pflicht und halten uns für geeig- net, einen wandel herbeizuführen, der vor allem ein ziel haben soll: gerechtigkeit für alle.“ im studentischen update zur leipzig-charta stünde der mensch im mittelpunkt, schreiben die jungen verfasser*innen, denn: „gerechtigkeit in europa kann nur entstehen, wenn wir den menschen als maßstab definieren und jeden als gleichwertig, aber nicht gleichartig annehmen.“ die hauptkri- tikpunkte der studierenden an dem bisherigen leitbild: die themen stadt-land-gefälle sowie migration und digitalisierung kommen in der leipzig-charta zu kurz. besonders beim stadt-land-gefälle wird klar, was die studierenden mit dem unterschied zwischen „gleichartig“ und „gleichwertig“ meinen. zwar sind städte und ländliche regionen gleichermaßen wichtig, haben aber völlig unterschiedliche bedürf- nisse. es überrascht zunächst, dass ausgerechnet großstadtverwöhnte studierende den fokus nun auf die bedürfnisse der landbevölkerung rich- ten. ihre analyse: „zwar rücken land und stadt durch die digitalisierung zusammen, gleichzeitig wird der raumwiderstand durch neue mobilität verringert. diese neue nähe ist grundlage für einen vielfältigen funktionalen und kulturellen austausch. land und stadt können wieder ge- genseitig voneinander profitieren“, glauben die nachwuchswissenschaftler*innen und träumen von geflechten aus städtischen und ländlichen allianzen, die über fragen nach dem fahrplan für den schulbus hinausgehen. dass das thema migration in seiner ganzen dring- lichkeit in der leipzig-charte aus 2007 keinen platz fand, werfen die nachwuchswissenschaftler*innen niemandem vor. immerhin sind es der bürger- krieg in syrien und die damit verbundenen mi- grationsbewegungen, die den dringenden hand- lungsbedarf hier überhaupt schufen. allerdings zögern die studierenden auch nicht damit, zü- gig nachzuliefern. „migration ist der normal- zustand“, heißt es unmissverständlich in ihrem manifest. die studierenden plädieren dafür, die unterscheidung zwischen einem migranten und den alteingesessenen aufzuheben und die pers- pektive lieber auf die verschiedenen potenziale jedes individuums zu lenken. migrantinnen und migranten seien als pioniere zu verstehen, mei- nen die jungen wissenschaftler*innen und führen als beispiel mustafas gemüse-kebap an. „2005 übernahm tarik kara einen imbiss am kreuzber- ger mehringdamm und machte ihn zum bekann- testen dönerladen der stadt. zusätzlich zum kauf einer speise können marken erworben werden, die der käufer an bedürftige verschenkt. diese erhalten bei mustafas eine speise nach wahl“ – für die studierenden ein beispiel für eine neue allianz zwischen individuen. smart city schließlich, also die erschließung einer urbanen struktur mit digitalen technologien, wür- de in der leipzig-charta noch zu dichotom gedacht. die nachwuchswissenschaftler betrachten gebau- ten und virtuellen raum nicht als zwei getrennte ebenen, sondern als einheit und befürchten, dass politiker*innen aufgrund von unverständnis den ausverkauf des virtuellen stadtraumes zulassen: „die algorithmen von gewinnorientierten kon- zernen bestimmen in steigendem maße unseren städtischen alltag“, heißt es im manifest. wer sich durch urbanen raum bewegt, greift auf facebook zurück, google maps oder apples siri. stattdes- sen fordern die studierenden von politik und ver- waltung, schleunigst geeignete und sichere open- source-lösungen bereitzustellen, zum beispiel für carsharing oder navigation. nur dann sei die stadt der zukunft ein für alle offenes experimentierfeld – im digitalen wie im analogen raum. michael metzger projekten entwickelt. in diesem kontext versucht jeutner, diese denkweise für die stadtplanung nutzbar zu machen. „klar haben wir bei der stadtplanung als zielgruppe immer alle men- schen im blick, die in der stadt leben“, so der experte. „aber je nachdem, was ich entwickeln möchte, sind manche nutzer*innen extremer betroffen als andere.“ jeutner und seine teams suchen nach diesen extremen. beim design von öpnv-systemen wären das beispielsweise kin- der, senioren und fremdsprachler, also alle, die probleme haben könnten, schnell informationen zu erfassen. solche zielgruppen werden zu co- creation-workshops mit anderen stakeholdern wie zum beispiel stadtplanern, politikern oder investoren eingeladen, um ebenjene prototypen zu bauen und zu testen, mit deren hilfe abstrakte ideen in greifbare lösungen verwandelt werden. „im gegensatz zum smartphone-dummy haben lösungsansätze im stadtplanerischen kontext leider häufig eine weitaus größere dimension als eine pralinenschachtel“, räumt jeutner ein. allerdings lässt sich der experte davon nicht be- irren. „in unseren workshops behelfen wir uns manchmal damit, dass wir zunächst ein modell aus lego im kleinen maßstab bauen. wo es angebracht ist, scheuen wir uns aber nicht, mit 1:1-modellen in den stadtraum zu gehen“, so jeutner. einen zebrastreifen kann man testen, indem man einfach mal ein paar streifen auf die straße malt und auf diese weise ausprobiert, was sich am verkehr ändert. am s-bahnhof südkreuz hat das team der tu berlin in einem lehrfor- schungsprojekt ein neues leitsystem getestet, dessen systematisch entwickelte lösungen auch auf andere bahnhöfe übertragbar sind. neben den co-creation-workshops ist das testen im urban design thinking ein zweites wichtiges ele- ment, feedback von bürgerinnen und bürgern sowie späteren betreibern einzusammeln, damit die langfristige lösung besser auf die probleme der betroffenen zugeschnitten ist. mit dem unkonventionellen methodenset sind prof. elke pahl-weber und ihr team mittlerwei- le bundesweit gefragte experten, organisieren innovationsworkshops auch in städten wie mannheim oder wolfsburg. meist besuchen bürgerinnen und bürger die workshops gern und beteiligen sich rege, wenn sie nach ihrer meinung gefragt werden. außerdem führen die erkenntnisse teils zu überraschenden schluss- folgerungen. „in einem der studienprojekte arbeiteten wir für ein wohnungsunternehmen, das seinen bestand energetisch sanieren woll- te“, erzählt jeutner. „die mieter*innen sind auf die barrikaden gegangen!“ der auftraggeber vermutete, der lärm der renovierung sei das problem, oder die etwas teurere miete. erst der urban-design-thinking-prozess brachte klar- heit: die mieter*innen stauten ihren hausrat im dachboden oder nutzten ihn als gemeinschafts- raum, der für die sanierung hätte geräumt wer- den sollen. mit alternativen angeboten auf dem gelände war allen geholfen. michael metzger stadtplanung mit design-methoden urban design thinking versucht methoden aus der innovationsberatung für die stadt- planung nutzbar zu machen. design thinking ist ein ansatz, der bei der entwicklung neu- artiger lösungen die zukünftige zielgruppe in den mittelpunkt aller überlegungen stellt und dabei iterativ vorgeht, das bedeutet, dass gemeinsam mit den zukünftigen nut- zern prototypen bereits im entwurfsstadium testet und weiterentwickelt werden. mm