"Unsinnige Vorschläge"

Die Dekane der ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche kritisieren den AS-Beschluß zum Studiengang E-Technik

Die sechs Dekane der ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche haben den Beschluß des Akademischen Senats zu möglichen Fachbereichszusammenlegungen zum Anlaß genommen, sich in einem Brief an den Berliner Wissenschaftssenator Radunski zu wenden. In dem Schreiben wenden sie sich insbesondere dagegen, "die Ingenieurwissenschaften weiter massiv zu beschneiden." Radunski wird aufgefordert, sich zum "Sachwalter der in der Region einmaligen Technischen Universität zu machen." Lesen im folgenden den vollständigen Text des Briefs vom 22. Mai.

"Der Studiengang Elektrotechnik wird nicht weitergeführt". So oder ähnlich lauten Forderungen und Vorlagen von verschiedenen politischen Seiten und Gruppen auch im Akademischen Senat der Technischen Universität.

Die Unsinnigkeit solcher Vorschläge soll an diesem Beispiel der Elektrotechnik gezeigt werden:

GEBURTSDTÄTTE ELEKTROTECHNIK

Berlin gilt als Geburtsstätte der Elektrotechnik. 1879 stellt Werner von Siemens hier den ersten elektrischen Zug vor; 1881 gründet er den Elektrotechnischen Verein, und 1884 wird an der Technischen Hochschule das erste Elektrotechnische Labor geschaffen. Heute ist die Elektrotechnik für alle Lebensbereiche wesentlich und unverzichtbar. Keine Verkehrstechnik, kein Maschinenbau, keine Produktionstechnik, keine Energietechnik, keine Medizin, keine Informations- und Kommunikationstechnik bis hin zur Unterhaltungselektronik ohne Elektrotechnik.

Dazu ist eine Ausbildung in Form des Studiums der Elektrotechnik, das auf einer gemeinsamen Grundlage aufbauend die Klammer der verschiedenen elektrotechnischen und ingenieurwissenschaftlichen Zweige bildet, zwingend notwendig und kann von daher auch nicht Gegenstand einer strukturell begründeten Einstellungsdebatte mit dem Ziel der schlichten Abschaffung sein. Genau das Gegenteil muß die Zielvorstellung sein: Ausbau der gemeinsamen Grundlagen, an denen die Elektrotechnik wesentlichen Anteil hat, um konjunkturell und branchenbedingte Schwankungen durch eine Flexibilität der ausgebildeten Ingenieure auffangen zu können. Man muß den Arbeitsmarkt bedienen können, ohne ihn mit Spezialisten einseitig zu überfrachten und die Studierenden mit einer verwendbaren und gültigen Ausbildungsbasis versehen, die ihnen auch noch in Jahren eine Berufsausübung ermöglicht.

Über dieses Beispiel hinaus gelten diese grundsätzlichen Aussagen dann genauso für alle anderen Ingenieurbereiche: Bauingenieurwesen, Energietechnik, Kommunikations- und Informationstechnik, Maschinenbau, Medizinische Technik, Umwelttechnik, Verkehrswesen u. a. unterliegen den gleichen Zielvorstellungen und stellen derart gleichzeitig wesentliche Faktoren für die Leistungsfähigkeit und damit für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland und im Fall der TU Berlin besonders für die der Region Berlin-Brandenburg mit Europas größter Baustelle dar.

Die Ausbildung eines qualifizierten Ingenieurnachwuchses, Forschung und Entwicklung in Kooperation mit der Wirtschaft des Raumes, Wissens- und Technologietransfer, Industrieberatung sowie europaweite Öffnung - besonders und aufgrund der Lage Berlins zu Osteuropa - sind zentrale und nicht zur Disposition stehende Aufgaben der Technischen Universität Berlin.

MASSIVE BESCHREIBUNGEN

Die technischen Fachbereiche erfüllen diese Aufgaben seit langem und mit Erfolg. Sie sind bereit und willens, diese Arbeit fortzusetzen - das gelingt ihnen aber nur, wenn die Versuche von verschiedener Seite eingestellt werden, die Ingenieurwissenschaften weiter massiv zu beschneiden. Hierzu muß in Konkretisierung festgestellt werden, daß die mittelfristige Planung die Streichung von 33% der Professorenstellen und von über 50% der wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen im Ingenieurbereich vorsieht und durch die inzwischen auflaufenden zusätzlichen Restriktionen diese Zahlen noch weiter überschritten werden sollen, und dies, obwohl die Studierendenzahlen über alle Ingenieurbereiche gesehen und unter Einbezug der immer schon stark schwankenden Neuimmatrikuliertenzahlen nur geringfügig abgenommen haben bzw. auch abnehmen sollen. Deshalb ist eine Politik, die das Profil der Universität nach dem jeweils gerade aktuellen Nachfragestand ausrichten will, unverantwortlich.

Es steht außer Frage, daß Natur-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften notwendiger und integraler Bestandteil der Technischen Universität im Sinne ihrer Neugründung vor 50 Jahren sind, aus dem sie auch ihr Profil als Universität gewinnt. Auf der anderen Seite ist festzustellen, daß nur eine der drei Berliner Universitäten eine Technische Universität mit dem ihr eigenen spezifischen Angebot und der entsprechenden Nachfrage im Bereich der Ingenieurwissenschaften ist. Bei aller Einsicht in Sparzwänge und Strukturveränderungen - eine Technische Universität, die weder den Begriff Technische noch den der Universität rechtfertigt und verdient, führt sich selbst ad absurdum - und wer daran mitwirkt oder es auch nur zuläßt, macht sich mitschuldig.

Ein Mindestmaß an Planungssicherheit und Stabilität sind unabdingbar für die Funktion und Aufgabe der TU Berlin. Verläßliche und berechenbare Perspektiven sind Grundvoraussetzung für die Kooperation mit ihren öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Partnern. Sie sind Grundlage für Drittmittelgeber im Sinne der Antragsforschung und Auftragsforschung. Prozentuale Kürzungen und Strukturveränderungen im "Gießkannenprinzip" stehen im Gegensatz zur feststellbaren "kritischen Masse" - über der noch Einiges, aber unter der Nichts mehr geht.

BERLIN BRAUCHT DIE TU

Berlin braucht eine Technische Universität, die - in enger Verflechtung mit den Natur-, Geistes- und Wirtschaftswissenschaften - durch ihre ingenieurwissenschaftlichen Bereiche qualifiziert wird, ihre spezifischen Aufgaben wahrzunehmen und ihr besonderes Profil gegenüber anderen Universitäten und Technischen Hochschulen zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Herr Senator, wir appellieren an Sie, sich im Interesse der Berliner Wissenschaft und Wirtschaft zum Sachwalter der in der Region einmaligen Technischen Universität zu machen und dabei die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß die Ingenieurwissenschaften der Technische Universität Berlin keinen weiteren Schaden nehmen und ihre Aufgaben zum Wohl der Region wahrnehmen können.

Die Dekane der ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche

Georg Hinrichsen, Fachbereich 6 Verfahrenstechnik, Umwelttechnik, Werkstoffwissenschaften; Johannes H. Schroeder, Fachbereich 9 Bauingenieurwesen und Angewandte Geowissenschaften; Peter Gummert, Fachbereich 10 Verkehrswesen und Angewandte Mechanik; Wolfgang Beitz, Fachbereich 11 Maschinenbau und Produktionstechnik; Horst Berger, Fachbereich 12 Elektrotechnik; Peter Pepper, Fachbereich 13 Informatik.


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