Streiks, Aktionen, Vollversammlungen

Berlins Studierende haben die Nase voll

Mit dem Auftakt des Sommersemesters formiert sich an den Berliner Hochschulen der studentische Protest. Die vom Senat verordneten Sparmaßnahmen, mit denen das Berliner Haushaltsloch gestopft werden soll, verursachen tiefe Einschnitte in Forschung und Lehre. "In den Protestaktionen geht es aber nicht nur um die Unis und die Einführung einer Einschreibgebühr von 100 Mark pro Semester", betont die AStA-Vorsitzende, Antje Ziebell, "sondern der Protest richtet sich auch gegen den geplanten Eingriff in die Autonomie der Hochschulen, gegen die Schließung von Fächern und Studiengängen, und es geht auch um Sozialkürzungen ganz allgemein". Wie sich die Universitäten und Hochschulen bisher gegen die Entscheidungen der Politiker gewehrt haben, zeigt unsere Chronik der Ereignisse:

Eine erste große Aktion der Studenten ist die Feier zum 50. Jahrestag der TU Berlin am 15. April. Etwa 2 000 Studenten erscheinen, um symbolisch die Technische Universität Berlin zu Grabe zu tragen. Nur unter Pfiffen und Buhrufen kann der Regierende Bürgermeister, Eberhard Diepgen, seine Grußworte sprechen. (Lesen Sie dazu unseren Bericht auf Seite 4.)

Die folgenden Tage stehen im Zeichen von Vollversammlungen, in denen über die Formen der studentischen Proteste nachgedacht wird: "Streik", "Warnstreik", "Aktionen in kleinen Gruppen in der Stadt". Schließlich beschließen die ersten Fachbereiche Streiks. Am Mittwoch, dem 24. April, findet eine gemeinsame Demonstration der Berliner Universitäten und Hochschulen statt., zu dem die Präsidenten und Rektoren aufgerufen haben. Ebenfalls zur Demonstration aufgerufen haben die Allgemeinen Studentenausschüsse (AStA). Und was eine gemeinsame Demonstration aller Hochschulangehörigen werden sollte, das werden schließlich zwei Demonstrationszüge. Die große Mehrheit der Studierenden folgt der von den Asten vorgeschlagenen Route durch die Westberliner Innenstadt. Der kleinere Marsch der Präsidenten und Rektoren nimmt die Strecke durch den Tiergarten zum Roten Rathaus. In beiden Zügen fordern die insgesamt mehr als 30 000 Teilnehmer den Senat auf, die Sparbeschlüsse zurückzunehmen.

Seit Semesterbeginn machen die Studierenden ihrem Unmut über die Einsparpolitik des Senats Luft, wie hier bei der Großdemonstration am 24. April
Der Großdemonstration folgen Aktionen. Lehrveranstaltungen der Humboldt-Universität und der FU werden auf die Straße verlegt. An der TU Berlin gibt es am Dienstag, dem 30. April, eine Vollversammlung im hoffnungslos überfüllten Audimax. Besprochen wird die Aktionswoche, die vom Donnerstag, dem 2., bis zum Donnerstag, dem 9. Mai, an den Unis stattfinden soll. Auch über Streik an der TU Berlin wird diskutiert. Neun Fachbereiche votieren dafür. Im Anschluß an die Versammlung ziehen 200 Studierenden an die Kreuzung Hardenbergstraße, Ecke Joachimstaler Straße, blockieren die Fahrbahnen und sorgen damit für ein Verkehrschaos. Auch am nächsten Tag blockieren TU-Studenten die Straße. In wechselnden Schichten hindern sie die Autofahrer, die Straße des 17. Juni zu passieren.

STUDENTISCHE AKTIONSWOCHE

Donnerstag, 2. Mai: Die studentische Aktionswoche an den Berliner Universitäten beginnt. Überall in der Stadt sind Studenten anzutreffen. Sie putzen Autoscheiben, führen ihre Lehrveranstaltungen gemeinsam mit ihren Hochschullehrern in der Öffentlichkeit durch. Täglich veranstalten sie Fahrradkorsos und blockieren den Verkehr.

Die TU-Studierenden konzentrieren eine Vielzahl ihrer Aktionen am und um den Ernst-Reuter-Platz. Am Montagmorgen sperren 300 Studenten für 20 Minuten die Zufahrtsstraßen.Während der ganzen Woche werden täglich um 13.45 Uhr Vorlesungen auf dem Platz abgehalten.

Wissenschaftssenator Peter Radunski äußert sich erstmals am 4. Mai in der Presse zu den Aktionen. "Der Protest kann einen nicht kalt lassen", erklärt er gegenüber dpa. "Ich glaube, was die Hochschulen gestört hat, ist, daß sie beim Nachtragshaushalt vor fast vollendete Tatsachen gestellt wurden. Ich hoffe allerdings, daß wir auf Dauer in einen Dialog kommen, der zeigt, daß wir alle die Berliner Universitäts- und Forschungslandschaft in einem guten Zustand erhalten wollen." Der Senator weist in dem Gespräch darauf hin, daß es außerhalb seiner Möglichkeiten liege, die Sparauflagen zu reduzieren oder zeitlich zu strecken.

BESUCH IM ROTEN RATHAUS

Am Montag, dem 6. Mai, um 12.00 Uhr und um 14.00 Uhr stehen jeweils etwa 100 Studierende vor der Tür des Roten Rathauses. Sie nehmen an einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung zur Länderfusion teil. Eine Vielzahl der Teilnehmer sind Studenten, die mit häufigen Zwischenrufen den Ablauf der Veranstaltung stören. Sie erreichen, daß die anwesenden Politiker auch zum Thema Bildungs- und Sozialabbau Stellung beziehen.

Die Streiksituation an den Fachbereichen der TU Berlin weitet sich indessen aus. Wie der AStA mitteilt, haben die Vollversammlungen von elf Fachbereichen beschlossen, in den Streik zu treten oder mit einer Streik- und Aktionswoche zu beginnen. Mit dabei sind die Fachbereiche 1 Kommunikations- und Geschichtswissenschaften, 2 Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, 4 Physik, 5 Chemie, 6 Verfahrenstechnik, Umwelttechnik, Werkstoffwissenschaften, 7 Umwelt und Gesellschaft, 8 Architektur, 9 Bauingenieurwesen und Angewandte Geowissenschaften, 10 Verkehrswesen und Angewandte Mechanik, 11 Maschinenbau und Produktionstechnik sowie 13 Informatik. Seminare und Vorlesungen finden zum Teil auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen statt. Viele Lehrveranstaltungen laufen aber regulär weiter, Besetzungen gibt es kaum.

ERZIEHUNG EINES SENATORS

Die Psychologiestudenten besetzen dann am Dienstag, dem 7. Mai, die Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung und halten eine öffentliche Vorlesung im Fach Pädagogische Psychologie ab. Vorlesungsthema: "Erziehung eines Senators". Eine öffentliche Probe seines Könnens bot der Chor des Collegium Musicum am Mittwoch vor der Gedächtniskirche. Auf einer Vollversammlung schließt sich auch der Fachbereich 14 Wirtschaft und Management den studentischen Aktionen an.

Ein gemeinsamer Fahrradkorso der Berliner Studierenden quer durch die Stadt beginnt um 10.00 Uhr an der Humboldt-Universität. Er steht unter dem Motto "Radeln gegen Radunski". Er führt vorbei an der TU Berlin und setzt sich in Richtung Freie Universität fort. Ziel des Korsos ist das Rote Rathaus. Am Abend gehen Architekturstudenten der TU Berlin vor der Staatsoper Unter den Linden als Strichjungs und Huren auf den Strich, "um Geld für die Studiengebühren anzuschaffen".

TU-SENAT WIRD GESTÖRT

Am Mittwoch, dem 8. Mai, tagt der Akademische Senat der TU Berlin. Etwa 300 Studierende sind gekommen, um die Diskussion zum Tagesordnungspunkt 13 "Stellungnahme des Akademischen Senats zum Haushaltsstrukturgesetz" zu verfolgen. Zu Beginn der Sitzung beschließen die Senats-Mitglieder mehrheitlich, die geplanten Montagsdemonstrationen aller Berliner Hochschulen gegen die Sparbeschlüsse des Senats von Berlin zu unterstützen. Einige ungeduldige Studenten stören mit Musik und Megaphon die AS-Sitzung so sehr, daß eine Abarbeitung der Tagesordnung nicht möglich ist. Präsident Dieter Schumann unterbricht die Sitzung, die am 15. Mai fortgesetzt wird. Erst dann wird die Diskussion um das Haushaltsstrukturgesetz stattfinden.

Den Abschluß der Aktionswoche bildet der Donnerstag. Die Stadt kommt an diesem Tag nicht mehr zur Ruhe. Allerorts ist der Protest der Studenten zu sehen und zu spüren. Um 17.00 Uhr startet ein Demonstrationszug vom Ernst-Reuter-Platz aus quer durch die Innenstadt zum Breitscheidplatz. Etwa 4 000 Studierende beteiligen sich an der Demo, die vom "Bündnis gegen Sozialabbau und Ausgrenzung" organisiert wurde.

"KEINE ANNÄHERUNG"

Am Tag nach dem Ende der Aktionswoche findet am Vormittag eine Podiumsdiskussion "Zukunft der Bildung in Berlin" statt. Etwa 200 Teilnehmer diskutieren mit der bündnisgrünen Politikerin, Sibylle Volkholz, mit den wissenschaftspolitischen Experten von SPD und CDU, Christian Gaebler und Eberhard Engler, mit einem Vertreter der PDS sowie dem TU-Studenten Holger Eisele und dem Ersten TU-Vizepräsidenten Professor Ulrich Steinmüller. SPD und CDU verteidigen ihre Haushaltspolitik, die Studierenden stellen ihre Positionen dar. Eisele fordert "eine Mitbestimmung der Studierenden bei künftigen bildungspolitischen Entscheidungen des Landes". Eine "Annäherung" war es nach Äußerung Ulrich Steinmüllers nicht, "aber ein offenes Gespräch, in dem es gelang, die Position der Universität deutlich zu machen". So kritisiert Steinmüller auch die Mär von den teuren Berliner Studienplätzen und berichtet, welche Landesaufgaben die Hochschulen Berlins im Gegensatz zu den anderen deutschen Hochschulen mitzufinanzieren haben (siehe nebenstehenden Bericht "Haste mal 'ne Mille?").

Mittags darauf hat der TU-AStA zu einer "Bilanzvollversammlung" eingeladen. Nur noch wenige Studierende finden den Weg dahin. Zeitgleich finden mehrere Fachbereichsvollversammlungen statt. Berichtet wird, daß der Wissenschaftssenator Radunski die Asten der drei Universitäten und der Hochschule der Künste zu einem Gespräch am Montag, dem 13. Mai, eingeladen hat. "Die Landesasten haben gemeinsam beschlossen, diesen Termin jedoch nicht wahrzunehmen. Wir wollen mit dem Senator öffentlich verhandeln, damit dieser auch einmal öffentlich vor den Studenten Stellung bezieht", berichtet Physikstudent Holger Eisele.

MONTAGSDEMONSTRATIONEN

Mit der Aktionswoche finden die studentischen Proteste gegen die Sparbeschlüsse des Landes nicht ihren Abschluß. Eine Mahnwache vor dem Roten Rathaus am Alex soll fortgeführt werden. Jeweils montags sollen Montagsdemonstrationen nach dem Leipziger Vorbild aus dem Jahr 1989 stattfinden.

In Vollversammlungen am Ende der Aktionswochen zeichnet sich aber ab, daß die Streiks in den Fachbereichen nicht fortgeführt werden. Die meisten Studenten stehen einer langfristigen Blockade des Lehrbetriebes kritisch gegenüber. Schließlich verlängert der Verlust eines Semesters die Studiendauer jedes einzelnen. Ob sich die Proteste über das ganze Sommersemester erstrecken werden, ist noch ungewiß. Sicherlich wird dies auch davon abhängen, ob es zu vernünftigen Gesprächen zwischen Studenten und Politikern kommt. TU intern wird in der nächsten Ausgabe weiter darüber berichten.

Janny Glaesmer


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