"Wie wäre es mit Groningen?"

Eindrücke aus niederländischen Klassenzimmern

Weil sie ihr Physik- und Mathematikstudium für das Lehramt schnell und erfolgreich abgeschlossen hatte, war Meike Bewersdorf Anfang diesen Jahres mit dem Erwin-Stephan-Preis der TU Berlin ausgezeichnet worden. Das Preisgeld, das für einen Auslandsaufenthalt vorgesehen ist, verwendete sie für einen Besuch in den Niederlanden. An der Rijksuniversiteit Groningen nahm sie fünf Monate an einem Referendariatskurs für das Fach Physik teil. Ihre Eindrücke von Groningen, der Physiklehreraubildung und dem niederländischen Schulsystem beschreibt sie in ihrem folgenden Beitrag:

"Wie wäre es mit fünf Monaten Groningen?", hatte mich Professor Rudolf Rass aus dem Institut für Fachdidaktik Physik und Lehrerbildung gegen Ende meines Studiums gefragt. "Kennen Sie das niederländische Schulsystem? Wir versuchen schon lange einen Lehramtsstudenten zu animieren, dort ein Schulpraktikum abzulegen."

Wo lag Groningen eigentlich? Würde ich mich in einem fremden Land zurechtfinden, wohlfühlen, Freundschaften aufbauen? Ist Niederländisch schwer zu lernen? Würde ich in einer fremden Sprache unterrichten können? Alle diese Fragen schossen mir durch den Kopf. Aber schließlich siegte meine Neugierde: "Warum eigentlich nicht?"

So kam es, daß ich nach bestandenem Examen in Groningen eintrudelte. Der dortige Erasmus-Koordinator hatte sich um ein Privatzimmer in einem Reihenhaus für mich gekümmert. Mietshäuser sieht man im Stadtbild von Groningen eher selten. Die niederländischen Studenten bilden üblicherweise Wohngemeinschaften und mieten gemeinsam ein Haus.

Die Universität in der Innenstadt: das Academiegebouw
Im allgemeinen reichen Englischkenntnisse für ein Studium in den Niederlanden aus, da die Vorlesungen auf Wunsch eines Einzelnen in Englisch gehalten werden.

Als Deutsche bin ich leider häufig mit einem Vorurteil konfrontiert worden: "Deutsche sind reich, arrogant und wollen keine Fremdsprachen lernen." Daher sind die Niederländer stets begeistert, wenn sich Deutsche bemühen niederländisch zu reden. Zudem ist Niederländisch der deutschen Sprache recht verwandt, so daß man sich relativ schnell verständigen kann. Ich habe zum Beispiel ein Semester einen Sprachkurs an der FU besucht. Dieser half mir, mich im Alltag zu verständigen, den Kursen an der Universität und den Unterricht in den Schulen zu folgen sowie selbst dort zu unterrichten. Meine Aussprache war natürlich nicht perfekt. Somit hatten die Schüler bei meinen Unterrichtsstunden stets etwas zu lachen. Dies schuf zum einen eine sehr angenehme Atmosphäre. Zum anderen mußten die Schüler konzentrierter zuhören, um mich zu verstehen, was gewöhnlich den Lernprozeß steigert.

LOCKERER UNTERRICHT?

Apropos Schule: Wie sieht es in der niederländischen Schule aus? Die Schulorganisation ist sehr englisch geprägt. Es existieren keine eigenen Klassenräume, sondern die Schüler wechseln für jede Stunde in die entsprechenden Fachräume. Zudem besitzen die Räume Fenster, durch die man den Unterricht beobachten kann.

Verwundert war ich über die häufige Frage niederländischer Lehrer, ob ich ihre Art des Unterrichtens zu "locker" fände. Grund ist ein allgemeines Vorurteil über den Unterricht in Deutschland: Wenn der Lehrer morgens seine Klasse betritt, wird es sofort mucksmäuschenstill, und alle Schüler springen auf und begrüßen ihren Lehrer militärisch. Ich versuchte dieses Bild so gut wie möglich auszuräumen. Ich fand im Gegenteil die Regeln innerhalb der niederländischen Schule disziplinarischer als in Deutschland.

Kommt zum Beispiel ein Schüler zu spät zum Unterricht muß dieser sich bei der "Concierge" melden, bei Wiederholung droht "Nachsitzen". Schüler, die die Hausaufgaben vergessen haben oder die Bücher nicht bei sich haben, werden "uitgestuurt". Dies bedeutet, daß sie sich in einem bestimmten Raum melden müssen und dort Arbeitsaufträge bekommen.

Zu meiner Verwunderung dominierte während meiner Hospitationen der lehrerzentrierte Frontalunterricht. Ich habe weder Gruppenarbeit noch je einen Schüler an der Tafel gesehen. Gleichfalls werden - soweit ich das beurteilen kann - sehr wenig Medien (Tafel, Overhead-Projektor o. ä.) verwendet. Hauptsächlich wird nach dem Schulbuch gearbeitet - also Seite für Seite Stunde für Stunde. Dies liegt meines Erachtens an den zentral gesteuerten Endklausuren. Hiernach entwickeln die Lehrbuchverlage ihre Bücher und dementsprechend führen die Lehrer den Unterricht durch.

Jedoch wird im Gegensatz zu Deutschland viel Wert auf das selbständige Arbeiten gelegt. Dementsprechend sind die Schüler gewöhnt für sich allein zu lernen nach dem Motto: "Hauptsache ich kann den Stoff."

Das Chemie- und Physikgabäude auf dem Campus außerhalb der Groninger Innenstadt
Eine interessante Zeit habe ich am "Zernike College" verbracht. Diese Schule hat sich seit zwei Jahren das Schlagwort "Zelfstandig leeren" zum Prinzip gemacht. Die Schüler haben hier weniger "klassische" Unterrichtsstunden als gewöhnlich, müssen demzufolge, um denselben Stoff zu lernen, viel mehr selbständig lernen. Dazu werden am Nachmittag verschiedene Kurse angeboten. Die Schüler können wählen, ob sie die Themen selbständig wiederholen (ein Fachlehrer steht für Fragen zur Verfügung) oder durch spezielle Projekte vertiefen wollen. Somit übernehmen die Schüler wesentlich mehr Verantwortung, ob und wieviel sie lernen.

NATUURONDERZOUK

Speziell für das Fach Physik gibt es einige Besonderheiten. In der Regel haben die Schüler in der 7. und 8. Klasse "Natuuronderzouk". Das ist eine Kombination aus Chemie, Physik und Biologie. Erst ab der 9. Klasse werden die drei Naturwissenschaften getrennt unterrichtet. Die einzelnen Naturwissenschaften besitzen jeweils einen eigenen sogenannten "Technisch Onderwijs Assistent", der die Experimente für den Unterricht vorbereitet und bei Schülerversuchen hilft. Folglich finden hier wesentlich häufiger Versuche im Unterricht statt. Das ist echter Luxus.

ARBEITSLOSE DIPLOMPHYSIKER

Während meines Aufenthaltes in Groningen nahm ich an den Referendariatskursen für Physik teil. Die Gruppe setzte sich hauptsächlich aus "arbeitslosen" Diplomphysikern zusammen. Mir fiel auf, daß die Studenten wenig Interesse zeigten, neue Ideen bezüglich des Unterrichtens kennenzulernen und auszuprobieren. Ich bekam zudem den Eindruck, daß ich aufgrund meines Lehramtsstudiums in Berlin - trotz meiner Meinung nach nicht sehr guter Kurse - wesentlich mehr diesbezügliche Sachkenntnis hatte. Die methodisch didaktischen Konzepte, wie zum Beispiel induktives oder deduktives Verfahren, waren bei den DIOs gänzlich unbekannt.
Das verbesserte sich erfreulicherweise während meines Aufenthaltes zusehends. Einige der Studenten nahmen meine Ideen und Hinweise auf und probierten sie, in ihren Unterricht einzuflechten. Beispielsweise ließ ein DIO die Versuche für die entsprechende Unterrichtsstunde von zwei Schülern mit seiner Hilfe vorbereiten, so daß sie diese während des Unterrichts den Mitschülern vorführen und erläutern konnten. Dies stieß sowohl von Seiten der Schüler als auch von Seiten der Lehrer und Professoren auf positive Resonanz.

Meike Bewersdorf


Lehrerausbildung in den Niederlanden

Alle Lehrer unterrichten in der Mittel- und Oberstufe nur ein einziges Fach. Um die Lehrbefähigung für MAVO und HAVO zu erlangen, besuchen sie vier Jahre lang eine spezielle Hochschule.

Eine gesonderte Gymnasiallehrerausbildung für das VWO gibt es nicht. Statt dessen ist ein abgeschlossenes Fachstudium (Diplomstudiengang) notwendig, gefolgt von einem Jahr an der "Leraaropleiding". In dieser Zeit unterrichtet der zukünftige Lehrer - der sogenannte DIO (docent in opleiding) - selbständig drei Stunden pro Woche und hospitiert zusätzlich. Daneben besucht der DIO einen Tag pro Woche ein "Fachdidaktikseminar" und einen Nachmittag das Seminar "Allgemeine Erziehungswissenschaften" an der Universität.


Das niederländische Schulsystem

Das niederländische Schulsystem unterscheidet sich auf den ersten Blick wenig von dem deutschen System. Im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren besuchen niederländische Kinder die Grundschule. Anschließend wird leistungsbezogen ausgewählt:
Der sechsjährige VWO-Zweig (Voor-bereidend wetenschappelijk onderwijs) bereitet auf ein Universitätsstudium vor und ist vergleichbar mit unserem Gymnasium.
Der fünfjährige HAVO-Zweig (Hoger algemeen voortgezet onderwijs) ist vergleichbar mit der Realschule. Dieses Examen erlaubt den Besuch des HBO (hooger beroeps onderwijs) und bildet zu höheren Positionen in Industrie, Diensleistung und Verwaltung aus.
Der vierjährige MAVO-Zweig (Middelbar algemeen voortgezet onderwijs) entspricht unserer Hauptschule. Nach diesem Abschluß kann man einen drei- bis vierjährigen MBO-Besuch (Middelbar beroeps onderwijs) anschließen, der zu mittleren Positionen in Industrie, Diensleistung und Verwaltung ausbildet.
In den Niederlanden dominiert die additive Gesamtschule (College). Das bedeutet ein MAVO-, ein HAVO- und ein VWO-Zweig sind in einer Schule zusammengefaßt. Die Berufsausbildung erfolgt im Gegensatz zu Deutschland in schulischen Einrichtungen.


© 7/'96
TU-Pressestelle