FORSCHUNG

Nicht an weiße Elefanten denken

Eine Dissertation über das Verdrängen

"Das kannste vergessen!" Der saloppe Satz fordert dazu auf, sich bloß nicht zu lange aufzuhalten mit einem Thema, mit dem zu beschäftigen sich nicht lohnt. Wenn es aber ein wichtiges Thema war? Wie kann etwas vergessen werden, das für einen Bedeutung hat? Das Paradox von Erinnerung und Vergessen zeigt sich in der verblüffenden Aufforderung: "Denken Sie eine Stunde lang nicht an einen weißen Elefanten!" Gerade das, was so dringend vergessen werden sollte, ist nur um so aufdringlicher präsent. Die Tiefenpsychologie hat dafür einen eigenen Begriff: die Verdrängung. Mit ihr beschäftigte sich der Diplompsychologe Gerald Mackenthun in seiner Dissertation an der TU Berlin.

Die Verleugnung der Nazi-Greuel ist zum Prototyp der Verdrängung geworden. Schaut man genauer hin, verdrängen nicht nur die Deutschen; jede Nation scheint ihre blinden Flecken und einseitigen Ideologien zu haben. Im Golfkrieg 1990 erlitt Saddam Hussein eine schlimme militärische Niederlage, doch die Weigerung des Diktators, die Realität der Katastrophe anzuerkennen, seine Leugnung der spirituellen Niederlage, brachte den Sieg der Verbündeten zum großen Teil um seinen politischen Sinn. Der vielschichtige Prozeß des Leugnens der Wahrheit führt in die Zerstörung, von Nationen ebenso wie von Individuen. Offenbar schlummern im Menschen Seiten seiner Psyche, die er nicht kennt - und die er nicht kennenlernen will. Auf eine komplizierte Weise ist das eine Überlebensstrategie, aber auf Dauer tötet sie die Seele.

Wie kommt es, fragt sich der Berliner Diplompsychologe und Wissenschaftsjournalist Gerald Mackenthun in seiner Dissertation "Widerstand und Verdrängung", daß ein Mensch Offensichtliches verleugnet, Sicht- und Fühlbares nicht zur Kenntnis nimmt, lebt, als ob gewisse Dinge, die ihn gewiß angehen, nicht existieren? Neigen wir alle dazu, die psychischen Verbindungen zu jenen Handlungen abzutöten, die zu rechtfertigen uns schwerfällt?

VERGESSEN IST NICHT VERDRÄNGEN

Das Paradox der Verdrängung besteht darin, etwas zu wissen, von dem man nichts wissen will. Verdrängen ist damit etwas anderes als Vergessen. Verdrängte Inhalte sind verbunden mit Affekten (negativen Gefühlen), während Vergessen gefühlsmäßig eher neutral ist. Das Vergessene verblaßt in kürzerer oder längerer Zeit, es verschwindet, während Verdrängtes als gefühlsmäßiges "inneres Bild" präsent bleibt, bis es in scheinbar unmotivierter, eruptiver Gewalt oder als eher stille Psychosomatik nach außen drängt.

Sigmund Freud führte vor 100 Jahren die Begriffe von Widerstand und Verdrängung in die Psychologie ein (Widerstand ist das äußere Zeichen eines inneren Prozesses namens Verdrängung). Vor ihm und nach ihm hat keiner dieses Phänomen ausführlicher und tiefgreifender beschrieben. Mackenthun behandelt deshalb in seiner am Institut für Psychologie der TU Berlin bei Prof. Dr. Eva Jaeggi abgeschlossenen Dissertation intensiv Freud und seine Triebverdrängung.

AUFRICHTIGKEIT

Mit der "Analytischen Grundregel" - alles, was in den Kopf kommt, soll vorbehaltlos ausgesprochen werden - führte Freud die Aufrichtigkeit als Voraussetzung für den analytisch-therapeutischen Prozeß ein. Es liegt nahe, Offenheit und Wahrhaftigkeit als "Ausweg" aus der Verschlossenheit und der Selbsttäuschung, in der neurotische Verdränger verfangen sind, zu betrachten.

Da Verdrängung von "Schlimmem" (was einem angetan wurde oder was man selbst tat) in seinen positiven Anteilen Identitätsschutz ist, kann es nicht darum gehen, Verdrängung durch Wahrhaftigkeit vollständig zu ersetzen. Vielmehr wird die Therapie eine Verschiebung der Gewichte versuchen. Freud sagte eben dies: Verdrängt werden muß, es darf nur nicht zu viel und nicht zu wenig sein. Wird zu wenig verdrängt, entwickelt sich der Mensch zum enthemmten und perversen Lüstling, wird zu stark verdrängt, entsteht der übersozialisierte, brave Mensch, der nicht mehr eigenständig handlungs- und denkfähig ist. Psychische Starrheit, geistige Unbeweglichkeit, Verschlossenheit, Überempfindlichkeit und Affektivität können ebenso Folgen von Verdrängung sein wie Aggression und Triebdurchbrüche.

Hingegen sind Offenheit, Wahrhaftigkeit und Wahrheitsfähigkeit Ziele therapeutischen Bemühens und gleichzeitig anthropologische Notwendigkeiten. Die geisteswissenschaftlich-philosophische Tiefenpsychologie bietet hier eine Orientierungshilfe, nach der heute in der Gesellschaft lauter denn je gerufen wird. Wenn man sich die verheerende Rolle der Verdrängung als Denk- und Entwicklungshemmung vergegenwärtigt, dann ist die Frage der besseren Erziehung und der Aufklärung durch eine philosophische Psychologie eine, die entscheidend sein wird für die Zukunft. Es muß deshalb daran erinnert werden, daß Psychotherapie, wenn sie emanzipatorisch und aufklärerisch verstanden wird, immer gegen wesentliche Normen der herrschenden Gesellschaft erzieht.

tui


Gerald Mackenthun: Widerstand und Verdrängung, Dissertation TU Berlin, Verlag für Tiefenpsychologie, Berlin 1997, 360 S., 38 DM.
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