TU intern - November 1997 - Forschung

Von der "Untersuchung der Dinge" zur modernen "Fachwissenschaft"

Forschungsprojekt über die Entstehung der modernen chinesischen Wissenschaftssprache - Wechselvolles Schicksal von Begriffen

Studentinnen in einer chinesischen Universitätsbibliothek: Die moderne chinesische Wissenschaftssprache, die in den Büchern zu finden ist, wurde überwiegend vor etwa 100 Jahren geprägt

Eines der Hauptprobleme eines Übersetzers ist die Tatsache, daß sich Begriffe aus verschiedenen Sprachen nicht eins zu eins übersetzen lassen. Bereits bei Übersetzungen im europäischen Sprachraum bringen diese Unterschiede große Schwierigkeiten mit sich. Noch deutlicher werden die Probleme bei zwei so unterschiedlichen Sprachsystemen wie dem europäischen und dem chinesischen. Mit den Eigenheiten der chinesischen Wissenschaftssprache beschäftigen sich TU-Wissenschaftler in der "Arbeitsstelle für Geschichte und Philosophie der chinesischen Wissenschaft und Technik".

Der in China seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommene Versuch, mit den westlichen Wissenschaften ein gänzlich fremdes Wissenssystem in den eigenen kulturellen und sprachlichen Kontext zu übertragen, stellte eine beträchtliche Herausforderung dar. Dennoch wurde der modernen chinesischen Wissenschaftssprache, die aus diesen Bemühungen entstanden ist, bisher weder von der linguistischen noch von der sinologischen Forschung ausreichende Beachtung geschenkt. Mit der wachsenden internationalen Bedeutung Chinas in der Politik und der Weltwirtschaft wird jedoch auch die chinesische Sprache immer wichtiger: Chinesisch ist heute nicht nur eine der Arbeitssprachen der UNO, sondern auch eine der weltweit meistverwendeten Sprachen der wissenschaftlichen Kommunikation.

Daß diese Kommunikation nicht immer reibungslos funktioniert und daß das unterschiedliche Verständnis auch scheinbar unproblematischer Ausdrücke immer wieder zu Schwierigkeiten führen kann, erfahren im Ausland lebende chinesische Wissenschaftler und Studenten - an der Technischen Universität sind dies mehr als 600 - beinahe täglich.

Ein gutes Beispiel sind die chinesischen Übersetzungen für das westliche Wort "Wissenschaft", die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt worden sind. Die anfänglich verwendeten Wörter boxue (wörtl. "umfassendes Wissen"), gewu ("Untersuchung der Dinge") und gezhi ("Erweiterung des Wissens durch Untersuchung der Dinge") entstammten sämtlichst dem konfuzianischen Kanon. Sie waren damit mit Bedeutungen befrachtet, die wenig mit Wissenschaft im modernen Sinne gemein haben. Und selbst das heute benutzte Wort kexue ("fachliches Lernen") hat in seiner ursprünglichen, seit dem 12. Jahrhundert bekannten Bedeutung nicht allzu viel mit dem modernen Verständnis der Wissenschaften zu tun. Es bedeutete "Wissen, das erforderlich ist, um die Beamtenprüfungen zu bestehen". Um solche und ähnliche Probleme aufzuhellen, ist es erforderlich die Entstehung des Vokabulars, aus dem sich die moderne chinesische Wissenschaftssprache zusammensetzt, zu rekonstruieren. Genau das ist das Ziel eines Forschungsprojektes unter Leitung von Prof. Dr. Michael Lackner vom Ostasiatischen Seminar der Universität Göttingen und Prof. Dr. Hans Poser vom Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Berlin.

Das Projekt wird von der Volkswagenstiftung mit knapp zwei Millionen DM unterstützt und ist zunächst auf eine Laufzeit von vier Jahren angelegt.

Ziel des Projektes ist die Kompilation eines Historischen Wörterbuches zur modernen chinesischen Wissenschaftssprache, in das sowohl veraltete als auch heute noch gebräuchliche Termini aufgenommen werden sollen. Jeder Eintrag wird Informationen über das erste nachweisbare Auftreten, die Herkunftssprache(n) und die morphologische Struktur der chinesischen Neuprägung enthalten. Den besonders interessanten Begriffen wird darüber hinaus eine kurze wortgeschichtliche Erläuterung nachgestellt. Des weiteren wird angestrebt, die Ergebnisse der Untersuchungen einem Archiv für moderne chinesische Begriffsgeschichte zukommen zu lassen. Dort wird die zu erwartende Fülle der gesammelten Informationen, u. a. mit Hilfe der in der historischen Semantik entwickelten Methoden, ausführlicher aufgearbeitet werden können.

Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, da das relevante Vokabular zu wesentlichen Teilen in dieser Zeit geprägt wurde. Zur genaueren Untersuchung dieses Wortschatzes muß umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet werden. So zieht die Forschungsgruppe neben zeitgenössischen Wörterbüchern ebenfalls Monographien zu allen Bereichen des "westlichen Wissens", Übersetzungen westlicher Werke, Reiseberichte von chinesischen Diplomaten und Studenten sowie Artikel aus den seinerzeit in China gerade entstehenden Zeitungen zur Untersuchung heran.

An der Technischen Universität konzentriert sich die Gruppe um Professor Poser (ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, zwei studentische Hilfskräfte sowie chinesische Gastwissenschaftler) auf die Analyse des neugeprägten Vokabulars in der Physik und der in der ersten Phase für das Überleben Chinas als lebenswichtig empfundenen Militärtechnik. Dabei sollen vor allem die Probleme erforscht werden, die sich bei der sprachlichen Aneignung eines wenigstens in praktischer Hinsicht rasch als überlegen erkannten Weltbildes in das Chinesische ergaben. Gleichzeitig sollen die gewonnenen Erkenntnisse als Vergleichsmaterial hinsichtlich der Techniken und Strategien dienen, die bei der Übertragung kultur- und sozialwissenschaftlicher Begriffe zur Anwendung kamen und die von der Göttinger Projektgruppe erforscht werden.

Letztlich soll die Untersuchung des wechselvollen Schicksals derjenigen Begriffe, die die moderne chinesische Ideen- und Wissenschaftsgeschichte in ihrer Auseinandersetzung mit dem Westen bis heute bestimmen, dazu dienen, die Ursachen wechselseitiger Mißverständnisse aufzuklären und die Integration Chinas in die wissenschaftliche Weltgesellschaft zu festigen.

Carina Baganz/Iwo Amelung


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