TU intern - Dezember 1998 - Aktuelles

Wo bleibt der Nachwuchs?

Weniger Studienanfänger und mehr Studienabbrecher in der Physik

Stehen die Physikprofessoren bald vor leeren Bänken? Aufgrund der stark zurückgegangenen Zahl der abgeschlossenen Vordiplomprüfungen rechnen die Fachleute mit weniger als 1500 Absolventen in etwa drei Jahren. Im Vergeich dazu lag die Absolventenzahl in diesem Jahr bei 3155

Ein uneinheitliches Bild ergibt sich zur Zeit hinsichtlich der Studierendenzahlen in den unterschiedlichen Fächern an deutschen Universitäten. Während bei den Ingenieur- und Informatikstudiengängen die Talsohle durchschritten scheint und die Zahl derer, die sich für ein solches Studium einschreiben, wieder zunimmt (siehe auch "Trendwende bei Ingenieuren"), kommt nun Alarm von den Physikfachbereichen, die unter einer erheblichen Abnahme der Studierendenzahlen leiden und einen Physikermangel für die Zukunft befürchten.

Für das Wintersemester 97/98 lag die Zahl der Studienanfänger nach einer bundesweiten Erhebung der Konferenz der Fachbereiche Physik bei 5128. Das entspricht einem Rückgang von drei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 1991, als erstmals Werte aus den ostdeutschen Universitäten in den Statistiken auftauchten, wies die Zahl der neuimmatrikulierten Physikstudierenden mit 9906 einen Höchststand in den letzten zwanzig Jahren auf. Seitdem ist die Zahl der Anfänger stetig gefallen. Im WS 97/98 lag sie um etwa fünfzig Prozent unter diesem Wert. An der TU Berlin ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Begannen im WS 92/93 noch 131 Abiturienten ein Physikstudium, so waren es im WS 98/99 nur noch 60.

Nach den Ursachen dieser Entwicklung fragte Alexander Bradshaw, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), in seinem Vortrag anläßlich der Absolventenfeier im Fachbereich Physik der TU Berlin.

DEFIZITE IN DER SCHULBILDUNG

Er ging dabei zunächst auf die Ausbildung in der Schule ein. Bereits dort sind Defizite in der naturwissenschaftlich-mathematischen Ausbildung der Kinder und Jugendlichen im Vergleich zu anderen Ländern zu beobachten. Bradshaw verwies auf die Ergebnisse der TIMSS Studie (Third International Mathematics and Science Study), welche die Leistungen von Schülern aus insgesamt 45 Ländern vergleicht. Für die Siebt- und Achtklässler hatte die TIMSS Studie bereits 1996 gezeigt, daß die Schulleistungen in Deutschland entgegen vielen Erwartungen nicht an der Spitze, sondern lediglich in einem breiten Mittelfeld liegen. Diese Ergebnisse wurden von den im vergangenen Jahr veröffentlichten Untersuchungen zu den Leistungen der Abschlußjahrgänge bestätigt.

ABNEHMENDES INTERESSE

Neben dieser offensichtlich nicht optimalen Ausbildung in der Schule ist ein abnehmendes Interesse der Schüler am Physikunterricht zu beobachten. Bradshaw zitierte neben TIMSS eine Studie, die am Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel durchgeführt wurde. Sie zeigt, daß Schüler und Schülerinnen in der zehnten Klasse erheblich weniger Interesse für die Physik zeigen als zu Beginn der fünften Klasse. Zwar nehme das Interesse an den meisten Fächern ab, der Trend für die Physik sei jedoch besonders negativ, wobei diese Tendenz für Mädchen noch stärker ausgeprägt ist als für Jungen.

Inwieweit sich die Schulbildung tatsächlich auf Studienentscheidung und Studienverhalten der Jugendlichen auswirkt, ist unklar. Der Rückgang der Studienanfänger in der Physik, so Bradshaw, spiegele in etwa den Rückgang der Jahrgangszahlen der Zwanzigjährigen wieder, so daß es sich dabei eher um eine ”natürliche Entwicklung" handele. ”Was aber Anlaß zur Besorgnis gibt", so Bradshaw, ”ist die Tatsache, daß die Zahl der erfolgten Vordiplomprüfungen stärker rückläufig ist, als die Zahl der Studienanfänger". Nach der Erhebung der Konferenz der Fachbereiche Physik lag die Zahl der abgeschlossenen Vordiplome im Zeitraum 97/98 bei 1454. Sie hat gegenüber dem Vorjahr um 17 Prozent, gegenüber dem Zeitraum 92/93 um 68 Prozent abgenommen. An der TU Berlin ging die Zahl der Vordiplome von 100 im Zeitraum 92/93 auf 54 in 96/97 zurück. Bradshaw ging in seiner Rede davon aus, daß ”ein erheblicher Anteil der im 1. Semester eingeschrieben Studierenden nicht wirklich Physik studiert, sondern aus anderen Gründen an der Universität immatrikuliert ist". Dieser Anteil sei in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

ZUNEHMENDE TECHNIKSKEPSIS

Gründe für den Nachwuchsmangel in der Physik vermutete Bradshaw auch in gesellschaftlichen Entwicklungen. So habe es in der Vergangenheit einen Umschwung zu einer wesentlich größeren Technikskepsis gegeben, von der die Physik als eine der harten Naturwissenschaften besonders betroffen sein könnte. Kritik an neuen Technologien sei nicht unberechtigt, erfordere aber eine gewisse Sachkenntnis.

Die Sorge vor der Arbeitslosigkeit sollte eigentlich kein Grund dafür sein, daß junge Leute kein Physikstudium eingehen. Die Berufsaussichten für Absolventen der Physik werden generell als gut angesehen. Aufgrund des Rückganges der Absolventen sei, so Bradshaw, sogar mit einem ”ausgesprochenen Physikermangel" zu rechnen. Allerdings ist zu beobachten, daß Physiker zunehmend in fachfremden Bereichen arbeiten. So ergab eine Berufsumfrage der DPG von 1997, daß Berufsanfänger, die in den vergangenen fünf Jahren eine Berufstätigkeit aufnahmen, zu über einem Viertel in der Elektrotechnik und zu 20 Prozent in der Software-Branche arbeiten. Sie sind aber auch zu einem deutlichen Anteil in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Unternehmensberatung, bei Banken und Versicherungen, in der Automobilindustrie und im Dienstleistungsbereich tätig. Ob und inwieweit diese Veränderung des Berufsbildes in Zukunft Auswirkungen auf die Lehrinhalte des Physikstudiums haben sollen, muß auch an der TU Berlin diskutiert werden.

Ursula Resch-Esser


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