STUDIUM

Studierende in der inneren Emigration?

Defizite in der Ausbildung - eine Umfrage unter 138 Ingenieurstudierenden

Bekannt ist, daß die meisten Studierenden heute neben dem Studium arbeiten. Weniger bekannt ist, wie häufig dieser »Job" fachnah ist und den Berufseinstieg vorwegnimmt. Wieviele Ingenieurstudierende arbeiten bereits vor dem Diplom in ihrem Berufsfeld? Und wie sehen diese Teilzeitarbeiter ihre Uniausbildung vor dem Hintergrund ihrer praktischen Erfahrungen? Diese Fragen verfolgte Wolfgang Neef, Leiter der TU-Zentralreinrichtung Kooperation, bei einer Umfrage unter 138 Studierenden seiner Lehrveranstaltung »Soziologie des Ingenieurberufs". Von den Ergebnissen dieser nicht-repräsentativen Umfrage berichtet er im folgenden :

In einer kleinen Umfrage im Rahmen der Lehrveranstaltung »Soziologie des Ingenieurberufs" haben wir in den letzten vier Semestern 138 Studierende der Ingenieurwissenschaften nach ihren »Jobs" parallel zum Studium und ihrer Einschätzung zur Ausbildung in ihrem Fachbereich befragt. Die Anregung zu dieser Umfrage ergab sich aus unseren Erfahrungen in der Lehrveranstaltung: Immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten aus eigener beruflicher Tätigkeit als Ingenieur/in. Und: Die Kritik am Studium - in der Vergangenheit mehr von den hochschulpolitisch Aktiven artikuliert - kommt inzwischen von allen Teilnehmern/innen, insbesondere von denen mit einschlägiger Joberfahrung.

Die Lehrveranstaltung »Soziologie des Ingenieurberufs" ist seit einigen Jahren Wahlfach in einer Reihe technischer Studiengänge, insbesondere Elektrotechnik (47 % der Teilnehmer in den letzten beiden Jahren), Energie-, Verfahrens- und Umwelttechnik (25 %), Maschinenbau (17 %) und Verkehrswesen (7 %). Die 136 befragten Studierenden kamen aus sieben verschiedenen Studiengängen und waren im Durchschnitt im 12. Semester.

Die Ergebnisse: 88% der Befragten arbeiten neben dem Studium, vorwiegend während des Semesters, im Schnitt 18 Stunden pro Woche. Das Spektrum der »Arbeitgeber" ist breit: Neben Studentische Hilfskraft- bzw. Tutorenjobs geht es von freiberuflicher Tätigkeit bis zum Werkstudentenjob in einem Großbetrieb. Erstaunlich war insbesondere, daß die Hälfte der Befragten (69) seit dem 5./6. Semester bereits fachnah arbeitet - also in ihrem zukünftigen Beruf als Ingenieur, und zwar im Schnitt 20 Stunden pro Woche, also halbtags (»TZ-Ings" - Teilzeit-Ingenieure). Ein Tätigkeitsbeispiel: »Mitarbeit bei der Entwicklung und Konstruktion von automatisierungstechnischen Anlagen, Korrespondenz mit internationaler Industrie, Prototypenbau."

Aus diesen Daten ergibt sich, daß der Übergang in den Beruf bei der Hälfte der Befragten bereits während des Studiums stattfindet, und zwar sehr früh. Wenn wir in unseren Statistiken »Studienzeiten" messen, geben diese Zahlen für diesen Teil der Studierenden nur den Zeitpunkt der formalen Exmatrikulation wieder. Sie sind falsch, wenn man sie als Zeitpunkt des Berufseinstiegs interpretiert.

Wie sehen nun die Einschätzungen der Befragten über die Leistungen der TU in der Lehre aus? Es überrascht nicht, daß sie sehr kritisch sind, und daß sie der in der letzten Zeit von den Beschäftigern verstärkt geübten Kritik an der Qualifikation der Absolventen/innen technischer Studiengänge bis ins Detail gleichen: Zu viel Fachliches, zu wenig »Schlüsselqualifikationen", zu wenig soziale Kompetenz, zu viel Bevormundung im Studium.

Was überrascht und gleichzeitig für die Universität besorgniserregend ist, ist die »innere Emigration" eines Teils von ihnen, und zwar besonders der »TZ-Ings". 39% dieser Gruppe betrachten die TU Berlin nicht mehr als Qualifizierungsinstanz, sondern lediglich als Lieferant von formalen Zertifikaten. Ihnen fehlen nicht nur beruflich verwertbare Ausbildungsleistungen wie »Methodisches Arbeiten", sondern auch die kritische Reflexion - Leistungen, die ja gerade ein Spezifikum der Universität sein müßten »Verantwortungsbewußtsein" ist in ihren Augen das größte Defizit.

Defizite

Eine zentrale Frage der Untersuchung war »Was sind die wichtigsten Qualifikationsdefizite der Ausbildung an der TU Berlin?". Die beiden bedeutendsten Defizite liegen nach Ansicht der 138 befragten Studierenden in den Bereichen

  • Veranwortungsbewußtsein
  • Improvisation.
Dabei unterschieden sich die Aussagen von Studierenden mit einem fachnahen Job (TZ-Ings.) nicht von denen der restlichen Studierenden. Die Defizite, die in der Rangliste folgen, wurden aber von beiden Gruppen unterschiedlich eingestuft: Die TZ-Ings fanden sie in jedem einzelnen Punkt wesentlich bedeutender als die restlichen Kommilitonen. Diese Defizite sind:
  • methodisches Arbeiten
  • Denken in überfachlichen
    Zusammenhängen
  • Belastbarkeit
  • Selbständigkeit
  • Entwickeln eigener Strategien.
Einen Punkt empfanden beide Gruppen nicht als Defizit, sondern als »zuviel", und zwar
  • fachliche Qualifikation.

Das angebotene Studium wird folglich auch wenig ernst genommen: Knapp die Hälfte aller Befragten sichert sich Freiräume, fast 60 % studieren nach eigenen Plänen, soweit die Verhältnisse im Fachbereich dies zulassen, und ebenso viele suchen sich die fehlenden Qualifikationen resigniert woanders.

Bei näherem Hinsehen fällt ein großer Unterschied zwischen den Fachbereichen auf: Die »innere Emigration" findet hauptsächlich dort statt, wo bislang die Studienreform kaum voran kam. Das gilt für die Elektrotechnik und, mit Einschränkung, für den Maschinenbau. Aus der Befragung und vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen in der Lehrveranstaltung selbst ist zu erkennen, daß es weit größere Unterschiede in der »Kultur" der verschiedenen Fachbereiche gibt, als man gemeinhin annimmt, und daß diese »Kultur" entscheidenden Einfluß auf die Identifikation der Studierenden mit der Universität hat. Aus unseren Daten (siehe Grafik) läßt sich schließen, daß in den Fachbereichen 6 (Energie-, Verfahrens- und Umwelttechnik) und 10 (Verkehrswesen) ein sehr viel lebhafterer Diskurs über berufliche Anforderungen und Studienreform stattfindet als insbesondere im Fachbereich 12 (Elektrotechnik), aber auch im Fachbereich 11 (Maschinenbau). Den Fachbereichen 6 und 10 gelingt es nach unseren Zahlen deutlich besser, die Studierenden trotz ihrer Kritik am Studium an sich zu binden: Die Verkehrs-, Verfahrens- und Umwelttechniker suchen, zum Teil durch Engagement in der Studienreform, Abhilfe bei den von ihnen festgestellten Defiziten durch aktive Strategien im Fachbereich. Die Elektrotechniker und Maschinenbauer dagegen weichen fast alle auf private Weiterbildung aus und blicken mit einer Art passiv-resignativer Verachtung auf ihren Fachbereich.

Auch wenn unsere Untersuchung sicherlich noch nicht repräsentativ ist: Sie sollte der Universität zu denken geben. Egal, ob man die Studierenden als Teil der Hochschule sieht, deren Engagement in und für die Institution (wie es ja auch der laufende Streik zeigt) dringend benötigt wird, oder ob man sie als »Kunden" sieht, die für ihr (Studiengebühren-) Geld ein ordentliches Angebot erwarten und ansonsten woanders hingehen: Ohne lebendigen Diskurs über Beruf und Studium von Ingenieuren, ohne Anstrengungen in der Studienreform werden die technischen Fachbereiche weiter Studierende verlieren. Wolfgang Neef, Eckart Schenk

Wenn Du Unterschiede zwischen universitärer Qualifikation und beruflicher Anforderung erlebst, wie gehst Du damit um? Die Antworten der 43 Studierenden aus den Fachbereichen 6 (Energie-, Verfahrens- und Umwelttechnik) und 10 (Verkehrswesen) ähnelten sich und wurden von den Untersuchern zusammengefaßt. Genauso wurden die Antworten der 88 Studierenden aus den Fachbereichen 11 (Maschinenbau) und 12 (Elektrotechnik) gebündelt


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