TU intern - Oktober 1999 - Aktuelles

Sterben unsere Städte aus?

"Als ein besonders großes Problem betrachte ich den starken Trend zur Deregulierung."
Heinz Reif

In den vergangenen Wochen sind gleich zwei neue Einrichtungen an der TU Berlin gegründet worden, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Stadt beschäftigen: das Schinkel-Zentrum für Architektur-, Stadtforschung und Denkmalpflege und die Arbeitsstelle für europäische Stadtgeschichte. Die Stadt, so scheint es, ist ins Gerede gekommen. Über ihre Probleme und Perspektiven sprach TU intern mit Professor Dr. Heinz Reif vom Institut für Geschichtswissenschaft.

Herr Reif, ist das steigende Interesse an der Stadt ausschließlich ein Berliner Phänomen?

Nein, sicher nicht. Die Umwandlung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft kennzeichnet das Ende unseres Jahrhunderts. Davon sind die Städte überall betroffen.

Wo sehen Sie die aktuellen Probleme der Städte?

Die Probleme der heutigen Stadt sind vielfältig. Dazu gehört zum Beispiel die Verkehrsentwicklung, aber auch die Suburbanisierung. Die Menschen ziehen an den Stadtrand oder in den Speckgürtel. Dies hat zur Folge, dass die Zentren veröden und öffentliche Räume der Begegnung, wie es sie früher gab, wegfallen. Als ein besonders großes Problem betrachte ich den starken Trend zur Deregulierung. Die Aufgaben der Stadtentwicklung werden zum Beispiel zunehmend an private Unternehmen, sogenannte Citydeveloper abgegeben. Wenn man das unüberlegt tut, dann besteht die Gefahr, dass am Ende die Kommunen nicht mehr über die Planung und Entwicklung ihrer Städte entscheiden können. Das alles findet dann weitgehend ohne eine politische Lenkung statt.

Kann die Stadtgeschichte dazu beitragen, die Probleme der Städte zu lösen?

Dies kann sicher nicht allein durch die Historiker geleistet werden. Durch die Erforschung stadthistorischer Themen können jedoch Zusammenhänge aufgeklärt werden, die auch für die heutige Stadtentwicklung relevant sind. So haben wir zum Beispiel im Ruhrgebiet untersucht, wie die Städte mit der zunehmenden Deindustrialisierung umgehen. Es zeigt sich, dass es manchen Städten hervorragend gelungen ist, sich dieser Situation anzupassen, während andere die Probleme nicht in den Griff bekommen. Hier herauszuarbeiten, wann die Kommunen die Abwanderung wahrnehmen bzw. ob und wie sie reagieren, kann helfen Fehler in Zukunft zu vermeiden. Oder lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen. In Oberhausen und Sheffield haben wir Untersuchungen zu "Shopping malls" durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass 50 Prozent der dort vertretenen Läden international agierenden Ladenketten angehören. Die restlichen, aus der Stadt kommenden Unternehmen merken oft gar nicht, dass sie lediglich dazu genutzt werden, zu ungünstigen Konditionen den verbleibenden Raum aufzufüllen.

Wie beurteilen Sie die Situation in Berlin?

Berlin ist, wie viele andere Städte auch, stark von der Deindustrialisierung betroffen, die Stadt war im 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Industriemetropolen in Europa. Die Suburbanisierung, die wir gegenwärtig besorgt beobachten, ist hier im Grunde ein altes Phänomen. Sie ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel die Villenviertel im Westen der Stadt entstehen, als das vermögende Bürgertum aus der Innenstadt wegzog. Damals, wie heute, gibt es aber auch gegensätzliche Entwicklungen. Das Planwerk Innenstadt versucht ja gerade, die Stadt auch als Wohnraum attraktiv zu machen. Schließlich darf man nicht vergessen, dass Berlin auch zahlreiche positive Entwicklungen durchgemacht hat. Die Stadt übt eine große Anziehung aus, davon profitiert nicht zuletzt auch die Universität. Viele Kollegen und ausländische Studierende kommen in die Stadt.

Mit Blick auf den Potsdamer Platz und den Moabiter Werder - auf leerstehende Büroflächen und Wohnungen - mag man die Frage stellen, ob nicht manchmal an den Menschen und deren Bedürfnissen vorbei gebaut wird?

Ich denke nicht, dass der Leerstand auf Dauer Bestand haben wird. Sicher ist ein Leerstand von ein, zwei Jahren für ein Unternehmen noch im Bereich der Normalität. Negativ wird es immer dann, wenn durch solche Baumaßnahmen "Wohnraum" verdrängt wird. So wurde beipielsweise in der Nähe des Kudamms ein Parkplatz mit einem kompakten Büro- und Wohnblock bebaut, der überdies an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Die Bewohner der Gegend hatten dagegen für aufgelockerte Wohnbebauung und einen Park plädiert. Was man bei der Stadtentwicklung nicht aus den Augen verlieren darf, ist die Frage, wie man mit Ressourcen umgeht. Ein Industriegebäude war vielleicht 200 Jahre da, Shopping Malls, um noch einmal darauf zurückzukommen, sind wahrscheinlich schon in zwanzig Jahren "ausgebrannt". Das ist kein sinnvoller Umgang mit den Ressourcen der Stadt.

Geisterstädte und bewachte Wohnviertel, ist das die Zukunft der Stadt?

Ich will nicht ausschließen, dass es auch in Deutschland bewachte Wohnviertel geben wird. Aber ich sehe die Entwicklung eher optimistisch. Die europäischen Städte haben eine lange Tradition solidarischen Ausgleichs, die nichts mit dem Erscheinungsbild amerikanischer Großstädte zu tun hat.


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