[TU Berlin] Medieninformation Nr. 6 - 13. Januar 2000
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Einstieg übers Dach

Wissenschaftler der TU Berlin untersuchten erstmals mittelalterliche Dächer in Thüringen und kamen zu erstaunlichen Ergebnissen

Auf dem Bürgerhaus thront ein imposantes Dach und die Balken des Fachwerks geben dem mittelalterlichen Bau, der sich in die Häuserzeile einer Thüringer Kleinstadt einpaßt, einen markanten Charakter. Diesen suchte man bei alten Bürgerhäusern Ostdeutschlands jedoch vergebens. Vor allem im vorigen Jahrhundert nagte der Zahn der Zeit an den Gebäuden und nach der politischen Wende standen Denkmalpfleger und Bauingenieure vor einem großen Handlungsdruck.

Dass dies auch die Stunde der Wissenschaftler war, verdeutlicht ein Projekt, das im Dezember 1999 an der Technischen Universität (TU) Berlin abgeschlossen wurde. "In nur kurzer Zeit sollten wir die wissenschaftliche Grundlage für eine zuverlässige Datierung von historischen Dachwerken in Mitteldeutschland schaffen", erklärt Projektleiter Prof. Dr.-Ing. Johannes Cramer vom Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege. Der hohe Nutzwert des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit einer Million Mark finanzierten Projektes war es denn auch, dass man Grundlagenforschung ganz unmittelbar mit den Fragen der praktischen Denkmalpflege vor Ort verbinden konnte. Die Ergebnisse schufen nicht nur die Basis für eine sachkundige Dokumentation und Instandsetzung vieler bedeutender Bauwerke, sondern lieferten zudem neue Erkenntnisse für die Kunstgeschichte dieser Region.

Von den mehr als 500 untersuchten Bauten, davon alle 125 erhaltenen mittelalterlichen Kirchendächer, erfuhren zahlreiche Objekte eine Rückdatierung um 200 bis 250 Jahre. Die ältesten Bürgerhäuser fanden die Berliner in Erfurt. Der Bau dieser Häuser konnte in die Jahre 1151 bzw. 1245 zurück gesetzt werden. "Den Stadtvätern war gar nicht bekannt, welche historischen Schätze sie in ihren Stadtmauern beherbergen", meint Prof. Cramer.

Um eine jahrgenaue Aussage über das Alter liefern zu können, beschrieben und zeichneten die Wissenschaftler die Dachwerke und deren Veränderungen. Die weiteren Auswertungen basierten dann auf mehr als 25.000 Holzproben aus den Dachwerken. Durch das Ausmessen und den Vergleich der Jahrringbreiten konnte das Fälljahr der verwendeten Baumstämme genau bestimmt werden. Bei der dabei angewandten dendrochronologischen Methode machten es sich die Forscher zunutze, dass die Jahrringbreiten in Abhängigkeiten des Klimas schwanken.

Dabei gingen die Bauhistoriker schrittweise vor. Zunächst wurden die Ringe lebender Bäume ermittelt, dann von historischen Holzteilen, die eine ausreichende zeitliche Überlappung mit der ersten Gruppe aufwiesen. In den vergangenen vierzig Jahren wurden so Standartkurven für verschiedene Holzarten aufgestellt, die bis zu zehntausend Jahre zurück reichen. "Die Dendrochronologie ist ein sicheres Datierungsverfahren", fügt Prof. Cramer hinzu, "sie wäre sogar eine hervorragende Möglichkeit, das 'erfundene Mittelalter', das häufig diskutiert wird, auszuhebeln. Denn diese Uhr ist objektiv und von der Natur gemacht, nicht Gegenstand menschlicher Spekulationen."

Bei der Auswertung der Daten mußten die Wissenschaftler zahlreiche naturbedingte Einflüsse und kulturelle Eigenheiten beachten - Wissen also, das weit über ihr Fachgebiet reicht. So zogen sie die mittelalterliche Zimmermannskunst und Holzverarbeitung genauso in ihre Untersuchungen ein wie den damaligen Baumbestand und die regionalen Handelswege. Auch der Nutzung des Dachraumes widmete man sich. "Dieser Platz wurde oftmals als Abstellraum genutzt. So findet man auf Kirchendachböden nicht selten die abgebaute historische Ausstattung des Gotteshauses, in Bürgerhäusern alte Türen und in Rathäusern bisweilen sogar die Gefängniszellen des 19. Jahrhunderts."

Auch der Forschungsstand zu zahlreichen bedeutenden Kirchenbauten Mitteldeutschlands mußte teilweise merklich korrigiert werden. So konnten die Bauhistoriker eine von der kunstwissenschaftlichen Forschung bislang weitgehend übersehene Bauform wieder entdecken. "Als sensationelles Ergebnis unseres Projektes ist die weite Verbreitung von Holztonnendächern in Thüringen herauszustellen", sagt der Projektleiter. Demnach sind fast ein Drittel aller mittelalterlichen Kirchendächer Thüringens nicht gewölbt und auch nicht durch eine flache Decke geschlossen. Sie weisen vielmehr die Form eines Holztonnendachwerks auf, das vor allem im französischen und flämischen Raum bekannt war. Für die deutsche Region hat man diese Architektur bisher als seltene Sonderform betrachtet.

Ob die Vielzahl der Befunde in Thüringen ein Inselphänomen oder auch für andere Regionen nachzuweisen ist, bleibt einstweilen offen. Denn mit dem TU-Projekt wurde erstmals in der kunst- und baugeschichtlichen Forschung der Versuch unternommen, die Dachkonstruktion einer ganzen Kulturlandschaft im Zusammenhang zu erfassen und zu beschreiben. Die dabei entwickelte Strategie wird derzeit auf die wichtigsten frühchristlichen Kirchen Roms übertragen.

Stefanie Terp

Dieser Text steht Ihnen zur Veröffentlichung frei.


Forschungsprojekt: Gefügetechnik und Dendrochronologie in Thüringen und Sachsen-Anhalt (1993-1999), Leitung: Prof. Dr.-Ing. Johannes Cramer, Fachbereich 8 "Architektur", Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege, Tel.: 030/314-21946, Fax: 030/314-21947, E-Mail: cramer@baugeschichte.tu-berlin.de