TU intern - April 2000 - Studium
Den Crash in der Luft verhindern
Ein Praktikum als Flugzeugingenieurin bei Boeing
Steile Lernkurve durch selbständige Flugtests - Nadja Wokurka
in einer Testanlage bei Boeing |
Als ich im Oktober 1997 die Nachricht erhielt, zu den Ausgewählten
für ein sechsmonatiges Fachpraktikum bei dem amerikanischen
Luft- und Raumfahrtkonzern Boeing
zu gehören, waren meine Freude und Begeisterung groß.
Damit hatte ich die Möglichkeit, an der erst zweiten Runde
des Praktikumprogramms der Reinhardt-Abraham-Studienförderung
(RASf) teilzunehmen.
In den Monaten vor dem Praktikum organisierte die für internationale
Praktikanten zuständige Abteilung bei Boeing die zur Erlangung
des Visums notwendigen Dokumente, darunter die Arbeitserlaubnis.
Gleichzeitig konnte ich Wünsche äußern, in welchen
Bereichen ich gern arbeiten würde. Ich nannte dabei auch
den Flugtest.
Im August 1998 war es dann endlich so weit - ich flog in die Hauptstadt
des US-Bundesstaates Washington, nach Seattle. Am Flughafen wurde
ich von der zuständigen Boeing-Mitarbeiterin und einem meiner
Mitstreiter, der bereits seit einigen Monaten in den USA war,
in Empfang genommen. Die Ratschläge der beiden halfen mir
in den ersten Tagen bei der Suche nach einer Unterkunft und -
viel spannender - nach einem zuverlässigen und in den USA
lebensnotwendigen Auto. Dass Boeing ein Hotelzimmer für die
ersten zwei Wochen und einen Mietwagen für fünf Tage
zur Verfügung stellte, erleichterte den Einstieg. Ich fand
ein Zimmer zur Untermiete in Seattles Stadtteil Fremont. Das ist
ein Viertel voll mit ,Alt-Hippies', guten Restaurants, vielen
Studenten. Und wo sonst in den USA kann ausgerechnet eine ausgediente
überlebensgroße Statue von Lenin mitten in Downtown
besichtigt werden?
Nachdem diese Einführungsrituale ,überstanden' waren,
traf ich meine neuen Kollegen. Und wo? Genau, in der Abteilung
für den experimentellen Flugtest.
Meine Arbeit als Flugtest-Ingenieurin umfasste im Wesentlichen
drei Bereiche: Testplanung, Testdurchführung und Testauswertung.
Für die Testplanung wird zuerst ein Testplan erstellt, der
die Flugmanöver, die notwendige Messausrüstung und eine
Risikoabschätzung enthält. Das geschieht in enger Abstimmung
mit den zuständigen Fachabteilungen, den Testpiloten und
dem Testdirektor.
EXPERIMENTELLE FLUGTESTS
Während der Flugtests war ich für den Betrieb der Flugteststationen
an Bord und für die Beobachtung und Beurteilung der Testmanöver
anhand der Daten auf Bildschirm und Ausdrucken zuständig.
Dabei muss ständig der Kontakt über Sprechfunk mit den
Piloten und den übrigen Mitgliedern der Test-Crew gehalten
werden, um den reibungslosen Ablauf des Tests zu gewährleisten.
Letztendlich bedeutet jede zusätzliche Minute in der Luft
eine Steigerung der Treibstoffkosten. Nach dem Test ist schließlich
nach Auswertung der gewonnenen Daten ein Zertifizierungsbericht
für die Luftfahrtbehörden zu schreiben.
Ich hatte großes Glück, mein Praktikum gerade zu Beginn
des Flugtestprogramms der Boeing 757-300 zu beginnen. So konnte
ich den ganzen Ablauf eines Testprogramms erleben. Und nach nur
4 Wochen als mitfliegender und beobachtender ,intern' wurde mir
mein erster selbständiger Test als Analysis-Ingenieurin anvertraut.
Diese Verantwortung als Studentin zu übernehmen motivierte
mich natürlich ungemein und trieb die Lernkurve steil nach
oben, da ich während des Fluges auftretende Fragen und Probleme
schnell und unkompliziert lösen musste. Neben einigen Tests
auf der B757-300 war ich auch für eine Testreihe auf dem
Boeing Business Jet zuständig.
Nach Abschluss des Programms 757-300 wechselte ich in die Abteilung
Instrumentation Design des Flugtests. In dieser Abteilung wird
die für die Tests notwendige Messausrüstung entworfen.
Am Ende der 6 Monate wurde mir eine Verlängerung um anderthalb
Monate angeboten, die ich nutzte, um einige Erfahrungen in der
Fertigung zu sammeln. Dafür war ich dem Material Review Board
(MRB) in Everett zugeteilt, wo die Widebodys B777, B747 und B767
montiert werden. Die MRB-Ingenieure sind sozusagen die ,Feuerwehr'
in der Produktion. Wann immer z.B. ein fehlerhaftes Werkteil von
den Zulieferern angeliefert wird oder einem Mechaniker eine Bohrung
zu groß gerät, werden sie hinzugezogen. Sie müssen
dann einschätzen, ob eine Reparatur möglich ist, und
bestimmen, wie diese vorzunehmen ist.
IN SHORTS UND SANDALEN
Neben den vielfältigen Arbeitsaufgaben während des Praktikums
hatte ich auch die Gelegenheit, den amerikanischen Nordwesten
der USA kennen zu lernen. Seattle ist ideal gelegen, knapp eine
Stunde dauert es bis ins Gebirge und in 2 Stunden ist der Pazifik
erreicht. Die Natur ist wunderschön und bietet viele Möglichkeiten
für Sport im Sommer wie im Winter. Nicht umsonst belegt Seattle
seit Jahren die vordersten Plätze bei der Bewertung der Lebensqualität
amerikanischer Städte. Übrigens sind die ,Seattlites'
stolz darauf, im ganzen Land mit dem Tragen von khaki-farbenen
Shorts und Sandalen zur obligatorischen Regenjacke weit bis in
den November hinein assoziiert zu werden.
Kurz nach meiner Rückkehr im März 1999 flogen die Teilnehmer
der dritten Runde nach Seattle. Auch sie sind bereits nach erfolgreichem
Praktikum wieder in Berlin und die nächsten Studenten und
Studentinnen stehen schon in den Startlöchern. All denjenigen,
die an einem Praktikum interessiert sind, das ungewöhnlich
viel Verantwortung zulässt und bei dem Eigeninitiative von
der Firma tatkräftig unterstützt wird, kann ich die
Bewerbung für das RASf-Programm wärmstens empfehlen.
Es steht Studierenden aller Fachbereiche der TU offen, deren Studium
einen Bezug zur Luft- oder Raumfahrt aufweist.
Nadja Wokurka
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