TU intern - Juli 2000 - Forschung

Porträt:

Wissenschaft, Technik und Philosophie in China


Im 17. Jahrhundert beschäftigte sich mit China keiner so umfassend wie Leibniz
Seit der Diskussion um die Green Card rückt auch China wieder in den Blickpunkt des Interesses. In der ZEIT erschien gleich eine Serie über die jüngsten Entwicklungen im Reich der Mitte, die FAZ berichtete über Biotechnologie und Genforschung in China, und Bill Gates erhofft sich von seinem in Peking gegründeten Forschungsinstitut neue Impulse für die Softwareentwicklung.

Das vor allem kulturelle Interesse, das Interesse am kulturell Andersartigen hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Man erinnere sich nur an den vielbeachteten chinesischen Erfindergeist. Die Arbeitsstelle für Geschichte und Philosophie der chinesischen Wissenschaft und Technik am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Berlin beschäftigt sich seit 1993 systematisch mit den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Implikationen der chinesischen Wissenschafts- und Technikentwicklung in Forschung und Lehre. Schwerpunkte der Arbeit sind die in der westlichen Sinologie nur selten beachtete Verbindung von geistiger und materieller Kultur sowie interkulturelle Fragestellungen im Kontext China und Europa.

LEIBNIZ UND CHINA

Die Entdeckung Chinas war die größte kulturelle Entdeckung des 17. Jahrhunderts. Unter denjenigen, die in diesem Jahrhundert an China ein besonderes Interesse zeigten, ragt der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz im besonderen heraus, beschäftigte er sich doch mit der chinesischen Schrift und Sprache, mit der Geschichte Chinas, mit Wissenschaft und Technik, mit der Staatsverfassung und der konfuzianischen Philosophie.

Während etwa die Mode der Chinoiserie bis hin ins Rokoko kaum so weit führte, China zu verstehen, während die wissenschaftlich hochqualifizierten jesuitischen Missionare die dringlichen Fragen des Denkens von Leibniz trotz grundsätzlichen Interesses oft genug als eine Ablenkung von ihren primären Missionsaufgaben sahen, während einzelne Gelehrte wie der Berliner Orientalist Andreas Müller stets nur eine Fragestellung im Auge hatten, war es Leibniz, der nach einem umfassenden Verständnis suchte und alle genannten Bereiche zu einer Synthese führte.

Über die geistesgeschichtlich orientierten Aspekte hinaus geht das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsprojekt zu den Leibniz-Schriften über China auch der für das Verständnis unserer Zeit belangvollen Frage nach, ob und wie weit die Sicht von Leibniz auf China ein Produkt seiner Zeit war und ob wir diese Sicht möglicherweise korrigieren müssen.

WISSENSCHAFTSSPRACHE CHINESISCH

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der TU-Arbeitsstelle ist die Untersuchung des Wissenschaftsaustausches zwischen China und Europa in historischer Perspektive. Seit Dezember 1996 wird gemeinsam mit dem Ostasiatischen Seminar der Universität Göttingen das Forschungsprojekt "Wissenschaftssprache Chinesisch" durchgeführt. Ziel dieses von der Volkswagenstiftung geförderten Vorhabens ist es, die Entstehung der Begrifflichkeiten zu rekonstruieren, in denen natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Themen in der chinesischen Welt erörtert werden. Das Vokabular und die Inhalte der heute geführten Diskussionen sind das Ergebnis einer seit dem 19. Jahrhundert andauernden Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne. Begriffe wie "Masse" und "Physik", aber eben auch "Freiheit", "Recht" und "Demokratie" hatten im traditionellen Chinesisch keine wirklichen Entsprechungen. Um ihrem Publikum derart "fremde" Konzepte zu vermitteln, waren die Übersetzer abendländischer Texte vielfach gezwungen, neue Wörter zu prägen oder bekannte umzudeuten.

Die Wahl des Übersetzungswortes lenkte das Verständnis dabei oft in eine bestimmte Richtung. Für unvorbereitete Leser macht es zweifellos einen bedeutsamen Unterschied, ob man etwa die Mechanik als eine "Lehre von den Kräften" oder eine "Lehre von den Gewichten" vorstellt.

Im Rahmen des Forschungsprojekts wird zum einen die Vielfalt konkurrierender Neu- und Umprägungen dokumentiert, die die "Einbürgerung" westlicher Konzepte in chinesische Diskurse ermöglicht haben (die zu diesem Zweck angelegten Datenbanken werden im Herbst über das Internet öffentlich zugänglich gemacht); zum anderen wird dem in jedem derartigen Übertragungsprozess unvermeidlich auftretenden Bedeutungswandel durch Analysen von Schlüsselbegriffen nachgegangen, die in einem "Historischen Wörterbuch zur chinesischen Wissenschaftssprache" zusammengefasst werden sollen.

BERLINER KOOPERATIONEN

Im Wintersemester 2000/01 wird die TU-Arbeitsstelle in Zusammenarbeit mit dem Ostasiatischen Seminar der Freien Universität eine Ringvorlesung anbieten, die dann im jährlichen Turnus wechselnd an TU und FU stattfinden wird. Die TU macht im kommenden Semester den Anfang. Im Bereich der Forschung wird - eine Bewilligung der DFG vorausgesetzt - die chinesische Alchemie einen weiteren Arbeitsschwerpunkt bilden. Weitere Informationen können unter http://station7.kgw.tu-berlin.de eingesehen werden.

Joachim Kurtz, Wenchao Li, Welf H. Schnell


Leserbriefe

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