TU intern - Juli 2000 - Aktuelles
Eine Publikationsplattform
Die Geisteswissenschaften haben das Internet entdeckt
Wie stellen Sie sich den typischen Geisteswissenschaftler vor?
Vielleicht, ja mit Block und Bleistift, höchstens wohl hinter
einer Schreibmaschine an seinem Tisch - vom PC keine Spur, vom
Internet höchstens mal gehört. Doch in Sachen Nutzung
des Internet holen die Geisteswissenschaften auf. Vorreiter sind
zwar nach wie vor die Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber
auch Germanisten, Historiker und vor allem Sozialwissenschaftler
haben das WWW für sich entdeckt. Sie nutzen das Internet
in erster Linie zu Recherchezwecken und zur Präsentation
ihres Faches. Thomas Schulz von TU intern stellt Ihnen zwei Beispiele
vor.
Die engste Verbindung zur Informatik pflegt unter den Geisteswissenschaften
das TU-Institut für Linguistik,
in der Forschung schon seit den 60er Jahren. Sie können auf
gemeinsame Wurzeln zurückblicken, ein Beispiel ist die Logik.
Für die Linguisten spielt sie im Bereich der Semantik eine
Rolle, für die Informatik im Bereich der Programmierung.
Seit den 80er Jahren können Informatik-Studierende im Rahmen
ihres Diplomstudiums Linguistik als Nebenfach belegen - ein Studienangebot,
von dem in den vergangenen Jahren immer mehr Gebrauch gemacht
wurde.
Für die Linguisten ist das Internet auch Forschungsgegenstand.
"Wir Linguisten beschäftigen uns ja mit Sprache. Und
da ist die Sprache im Netz für uns von ganz besonderem Interesse,
denn das Internet hat zahlreiche neue Textgenres etabliert",
so Roland Posner, Professor für Textlinguistik und Linguistik
des Neueren Deutsch an der TU Berlin. "Obwohl wir per E-Mail
schriftlich kommunizieren, sind die Texte durch Elemente der Oralität,
also der Mündlichkeit geprägt." Wer redet, gebraucht
meist unbewusst zahlreiche so genannte redebegleitende Gesten,
die das Gesagte unterstreichen sollen. Die lassen sich im Internet
nicht direkt abbilden, ihre Funktion übernehmen grafische
Mittel und Stilmerkmale des geschriebenen Textes.
In diesem Zusammenhang spielt das Verhältnis von Textstruktur
und Textfunktion eine wichtige Rolle. Im visuell geprägten
Internet kommt noch die Frage nach der Funktion der Bildlichkeit
hinzu. Wie verhalten sich diese drei Komponenten zueinander? "Da
gibt es große Diskrepanzen. Für einen Informatiker
ist es wichtig, sich zusätzlich zu seinem Fachstudium mit
einer anderen Disziplin zu beschäftigen. Die Sprache als
Gegenstand der Linguistik und die Text-Bild-Beziehungen als Gegenstand
der Semiotik liegen da ganz nahe. Es sind ja oft Informatiker,
die Texte für das Internet aufbereiten", so Roland Posner.
Und die sollten etwas von Linguistik und Semiotik verstehen, wenn
im Internet nicht nur eine bunte Bilderwelt entstehen soll.
Natürlich dient das Internet den Linguisten und Semiotikern
auch als Kommunikationsmittel. Prof. Evelyn Dölling von der
Arbeitsstelle für Semiotik
am Institut für Linguistik pflegt mit ihren Studierenden
und Doktoranden einen regen Gedankenaustausch über alle Fragen
rund ums Studium, seien es Fragen zum Seminar, zu Hausarbeitsthemen
oder zu Prüfungen, per E-Mail. "Das führt dazu,
dass Hierarchien immer weiter abgebaut werden. Die Kommunikation
zwischen Lehrenden und Studierenden erfolgt per E-Mail auf eine
völlig unkomplizierte Weise. Dass ich Professorin bin, spielt
als Statussymbol immer weniger eine Rolle."
Und: Die Arbeitsstelle für Semiotik ist gerade dabei, ihre
Homepage zu überarbeiten, um sich international noch besser
präsentieren zu können. Evelyn Dölling: "Schon
heute ist es so, dass ein Teil unserer Studierenden aus dem Ausland
kommt, die über das Internet vom Semiotik-Studiengang an
der TU Berlin erfahren haben. Und für diejenigen, die an
unseren Themen Interesse haben, aber nicht nach Berlin kommen
können, möchte ich demnächst eine Auswahl unserer
Veranstaltungen übers Internet zugänglich machen."
Einer, der das Internet für sich und seine wissenschaftlichen
Zwecke erst vor wenigen Jahren entdeckt hat, ist Christian Gizewski,
Professor für Alte Geschichte an der TU Berlin. Er begleitet
beispielsweise einen Teil seiner Lehrveranstaltungen durch ausführliche
WWW-Sktipten im Internet (unter http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/).
"Das ist nicht nur mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden,
sondern auch mit zahlreichen wissenschaftlichen Fragen."
Denn dabei geht es nicht einfach darum, das papierne Material
ins Netz zu stellen. "Wenn man über das hinausgeht,
was man zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen kann, wird das
Internet gerade für die Wissenschaft zu einem produktivitätssteigernden
Medium."
Eine der zentralen Aufgaben, die sich in diesem Zusammenhang für
den Wissenschaftler zusätzlich zu seiner gewohnten Arbeit
stellen, ist die eigenverantwortliche und völlig freie Bearbeitung
aller Fragen der Publikationsform, die sonst etwa von Verlagen
oder Redaktionen entschieden werden. "Schriftliche Quellen
etwa, mit denen ich in einem Aufsatz argumentiere, können
umfassend präsentiert werden." Das sei ein enormer Gewinn
für die wissenschaftliche Arbeit. Die andere Seite der Medaille:
"Leser, die im WWW zumeist auf eine zeittypisch etwas infantile,
multimediale Bilderbuchwelt stoßen, werden durch derartige
über das Medium ermöglichte Ansätze zur Gründlichkeit
vielleicht verwirrt." Die Schwierigkeit bestehe darin, zwischen
Komplexität und Vereinfachung abzuwägen.
Weil der Aufwand insbesondere technischer Art nicht gerade gering
ist, nutzen viele Wissenschaftler das Netz oft nur dazu, auf ihre
Veranstaltungen und Literatur zu verweisen, also eher katalogartig.
Das sei stets eine Frage von Aufwand und Nutzen. Warum betreibt
er einen größeren Aufwand?
Christan Gizewski ist außerplanmäßiger Professor
an der TU Berlin, d. h. er steht nicht in einem einkommenssichernden
wissenschaftlichen Dienstverhältnis zur Universität.
"Für meinesgleichen bietet das Internet eine hervorragende
Plattform, um auch auf die eigene Arbeit und die eigenen Verdienste
aufmerksam zu machen. Wer viel zu bieten hat, kann mit vielen
Zugriffen auf seine Seite rechnen." Vor allem junge Wissenschaftler
sollten deshalb wenigstens einige ihrer Arbeiten, etwa ihre Dissertation
oder besonders sorgfältig ausgearbeitete Aufsätze, im
Internet publizieren.
Dass sich nicht nur seriöse Dinge im Netz finden, ist hinlänglich
bekannt. Seriöses wissenschaftliches Publizieren im Netz
ermöglichen seit neuestem beispielsweise die Bibliotheken,
so auch die Universitätsbibliothek
der TU Berlin. Ein vor kurzem vereinbartes Verfahren sieht eine
fachliche Vorbegutachtung vor (Auskunft erteilt Kurt Penke, Tel:
314-2 44 29). Auch sogenannte Außenseiterpositionen sollen
dabei eine Veröffentlichungschance haben.
Das Internet, so Christian Gizewski, biete zwar für die Wissenschaft
große Vorteile, dennoch sei sein Gebrauch nicht zentral
für wissenschaftliche Erkenntnis. Für ihn ist es ein
wichtiges und von vielen noch nicht richtig genutztes neues Instrument,
das vor allem die wissenschaftliche Freiheit und den wissenschaftlichen
Austausch beflügelt.
Leserbriefe
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