TU intern - Juni 2000 - Internationales
Betriebswirtschaftslehre auf Japanisch
Mit dem Mythos Japan vor Ort aufgeräumt
Japan, ein Land voller Gegensätze. Für Silja Graupe
und Christian Mias zählt ihr Aufenthalt an der Sophia University
in Tokio zu den Höhepunkten ihres Studiums. Sie haben Erfahrungen
gesammelt, die sie anderswo kaum hätten machen können,
glauben sie heute. Im Studienjahr 1998/99 haben sie Betriebswirtschaftslehre
auf Japanisch studiert.
Warum wollten wir ein Jahr lang in Japan studieren? Warum sollte
es nicht in die USA, nach England oder Frankreich gehen? Kurz
gesagt: Japan erschien uns fern und fremd. Es war klar, dass wir
in Europa oder Nordamerika ohne weiteres ein Jahr hätten
leben und dieses auch genießen können. Japan erschien
da schon als größere Herausforderung. Eine andere Kultur,
ein anderer Sprachraum, das Leben in einer riesigen Stadt - das
alles klang interessant, interessanter als alle anderen Möglichkeiten.
Wann würde man nochmals eine solche Gelegenheit ergreifen
können?
Darüber hinaus faszinierte uns der Mythos Japan als rigorose
Wirtschaftsmacht schon länger. Stimmte es, dass aus diesem
Teil der Welt der wirtschaftliche Niedergang Europas eingeläutet
werden würde? Am besten war es da, vor Ort eine Antwort zu
suchen. Die Sophia University mit ihrer internationalen Ausprägung
und ihrem englischen Programm in Comparative Culture schien dazu
die beste Gelegenheit zu bieten. Bald stand unser Entschluss fest,
es mit Japan zu versuchen.
DAS VERGLEICHEN LOHNT SICH
In Tokio angekommen, wurden wir von einem Studenten der Sophia
abgeholt und zu unserem neuen Zuhause gebracht. Wir hatten uns
für ein Wohnheim in ruhiger Lage entschieden, aber auch in
japanischen Gastfamilien soll es sich gut leben lassen. Wer allerdings
mit dem Stipendium auskommen will, der kann dies getrost vergessen.
Tokio gilt nämlich als eine der teuersten Städte der
Welt. Doch das Vergleichen der Preise lohnt sich. Meist sind die
kleineren Geschäfte günstiger als die großen Ketten.
Wer sich ein wenig umsieht, kann zumindest die Kosten für
Lebensmittel einigermaßen in Grenzen halten.
Das Semester an der Sophia University begann mit zahlreichen Informationsveranstaltungen.
Das garantierte einen problemlosen Start. Und weil wir mit dem
Anspruch nach Japan gereist waren, den angesprochenen Vorurteilen
gegenüber der japanischen Wirtschaft auf den Grund zu gehen,
belegten wir gleich entsprechende Kurse. Neben einer Vorlesung
zu dem Thema "Japan and the World", in der das japanische
Wirtschaftswunder und die heute dominierenden Wirtschaftsprobleme
Japans erarbeitet wurden, besuchten wir ein begleitendes Seminar,
bei dem wir Studierende einzelne Aspekte in Form von Referaten
präsentieren mussten. Der Arbeitsaufwand alleine für
dieses Seminar sprengte allerdings unsere Vorstellungskraft: Jeder
musste 1000 Seiten Skript zur Vorbereitung lesen.
IN JAPAN IST MAN OFT UNFLEXIBEL
Diese eher theoretische Auseinandersetzung mit Japan bildete nur
den Hintergrund für die besonderen Erfahrungen, die wir uns
von unserem Aufenthalt erhofften. In nahezu jeder Situation zeigte
sich, dass die Japaner vollkommen andere Normen und Wertvorstellungen
haben, als sie uns Europäern geläufig sind. Einerseits
ist die japanische Wirtschaft sehr kunden- bzw. dienstleistungsorientiert,
gleichzeitig aber ist man äußerst unflexibel und nicht
in der Lage, von Richtlinien abzuweichen und aus Hierarchien auszubrechen.
Ein Beispiel: Aufgrund eines starken Schneesturms im Winter mussten
in Tokio zahlreiche Bahnlinien ihren Betrieb einstellen. Dies
geschah teilweise auf freier Strecke, da die Gleise und Weichen
vereist waren. Nun stand ein vollbesetzter Zug im Feierabendverkehr
auf freier Strecke. Der Zugführer fragte per Funk seinen
Vorgesetzten, was er machen solle. Dieser fand in den Richtlinien
keine Handlungsempfehlung für die Situation und fragte daraufhin
seinen Vorgesetzten. Das ganze Spiel dauerte über fünf
Stunden. Immer häufiger wurde der Zugführer von den
Reisenden gebeten, er möge sie bitte herauslassen, d. h.
die Türen öffnen. Dies war aber laut Richtlinie verboten,
da ja ein zweiter Zug auf dem Nebengleis die aussteigenden Menschen
erfassen könnte. Freilich war dies in dem konkreten Fall
gar nicht möglich, da ja jeglicher Zugverkehr eingestellt
worden war. Tatsächlich fand kein Bediensteter des Bahnunternehmens
eine den Richtlinien entsprechende Lösung des Problems -
man wollte somit warten, bis der Schneesturm sich gelegt hatte.
Nach etwa fünf bis sechs Stunden zerstörten die Fahrgäste
schließlich mehrere Fenster und flüchteten eigenmächtig
aus dem eiskalten Zug, in dem die Heizung ausgefallen war. Der
Zugführer hingegen wurde befördert, da er trotz des
wachsenden Drucks der Passagiere nicht nachgegeben, sondern die
Richtlinien beachtet hatte.
Dies ist ein Beispiel dafür, dass trotz der vielgepriesenen
Kundenorientierung im Prinzip eine unglaubliche Unflexibilität
vorherrscht. Zivilcourage ist nicht gefragt. Vielmehr werden die
Menschen zur Angepasstheit und Obrigkeitshörigkeit erzogen.
Lange Zeit hat dieses Denken den Japanern geholfen, da sie ihre
Gesellschaft und ihr Wirtschaftssystem vom Rest der Welt weitgehend
isolierten. Durch die strikte Anpassung wurden Reibungsverluste
vermieden. Problematisch wurde dieses System insbesondere in den
vergangenen Jahren, da man gezwungen war, das Land gegenüber
Ausländern zu öffnen.
Silja Graupe und Christian Mias
Leserbriefe
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