TU intern - Mai 2000 - Aktuelles

Der moderne Gladiatorenkampf

"Bei Big Brother herrschen brutale Spielregeln: Man muss mit den anderen kooperieren und ist zugleich Teil derjenigen, die einen rausschmeißen müssen."
Clemens Schwender

Die Wellen schlugen hoch. Als die RTL-2-Sendung Big Brother anlief, sahen einige Kritiker die Menschenwürde in Gefahr. Inzwischen hat sich diese Diskussion gelegt. Die Fernsehnation schenkt dem Container bei Köln nur noch mäßige Aufmerksamkeit. Einen kurzen Höhepunkt gab es dann, als der Containerbewohner Zlatko in die Freiheit entlassen wurde. Wenn seine eigene Talkshow, die er bei RTL 2 veranstaltet, vorbei ist, wird er wohl wieder sich selbst überlassen - Aufstieg und Fall einer Medienfigur.

Über Big Brother und das Reality TV sprach TU intern mit Dr. Clemens Schwender, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Medienwissenschaft, Studiengang Medienberatung. Über das Thema Reality TV hat er gerade eine Vorlesungsreihe an der Johns Hopkins University in Baltimore gehalten.

Wie sehen Sie Big Brother, oder allgemeiner gefragt, das so genannte Reality TV?

Von der wissenschaftlichen Seite her gesehen, muss man beim so genannten Reality TV drei Gruppen unterscheiden: diejenigen, die sich auf dem Podium und damit vor der Kamera präsentieren; die Produzenten; und die Zuschauer vor dem Bildschirm. Lassen Sie mich den ersten Punkt herausgreifen: Wer wahrgenommen werden will, muss auf sich aufmerksam machen. Kein Medium eignet sich heute besser dafür als das Fernsehen. Dabei scheint das Risiko kleiner zu sein als der Gewinn: das Risiko ist, als Depp der Nation da zu stehen, der Gewinn, Anerkennung zu erhalten. Wieso es beispielsweise Zlatko gelang, den Big Brother-Container als Held zu verlassen, lässt sich allerdings nur schwer sagen. Aufstieg und Fall können kaum kalkuliert werden.

Wie funktioniert Big Brother?

Im Grunde geht es in der Schau nur darum, sich zu präsentieren. Sich nur hinzusetzen und zu lesen, das wäre etwas wenig. Man muss sich also mit den anderen zusammentun und gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Gleichzeitig aber muss sich jeder Einzelne von den anderen abheben, um wahrgenommen zu werden. Wer dabei über die Stränge schlägt, muss damit rechnen, von den Mitbewohnern rausgewählt zu werden.

Hat Reality TV überhaupt etwas mit Realität zu tun?

Das ist eine Frage nach dem Begriff von Realität. Das meiste, was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Medien. Wir haben kaum eine Chance, eine Meldung zu überprüfen. Davon abgesehen erhalten wir nur einen gefilterten Ausschnitt. Es ist ja oft genug vorgekommen, dass Nachrichten falsch waren. Oder denken Sie an die mediale Inszenierung des Golf-Krieges.

Die Geschichte des kleinen Elian Gonzales, die derzeit die amerikanischen Medien beschäftigt, ist im Grunde eine reale Soap Opera, mit allen wichtigen Elementen: Der böse Onkel Castro, die Rettung aus dem Meer oder die guten Verwandten in Miami. Selbst der Cliffhanger fehlt nicht: Wie werden die Richter entscheiden. Die Medien präsentieren rund um die Uhr "Elian Gonzales, die reale Truman-Story".

Auch im so genannten Reality TV werden dem Publikum nur Ausschnitte und Inszenierungen präsentiert. Sobald eine Kamera mitläuft, verhält man sich anders, nimmt man eine Rolle an, wie übrigens in fast allen alltäglichen Situationen auch. In Sendungen wie Big Brother wird dem Publikum soziale Interaktion geboten, an der der Zuschauer moralisches Handeln schult. Das gilt in gleichem Maße für die Nachmittags-Talkshows.

Was zieht das Publikum aus Medienereignissen?

Das Publikum zieht aus den Medienereignissen eine Identität. Oft genug bilden die Menschen eine Gruppe, die alle ein und dieselbe Sendung gesehen haben. Das Fernsehen ist Anknüpfungspunkt dafür, um über diese Erlebnisse zu reflektieren. Das nutzt das Fernsehen auch selbst. Stefan Raab etwa nimmt in seiner Sendung "TV total" Szenen aus anderen Sendungen aufs Korn. Dabei geht es um den Lacher. Der ist immer verletzend. Und daran berauscht sich die Nation.

Ist Big Brother so neu, wie die Diskussion in den Medien es suggeriert?

Veranstaltungen wie Big Brother lassen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte verfolgen. Denken Sie beispielsweise an die römischen Gladiatorenspiele. Da wurden Menschen in eine Arena gesperrt und mussten auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen. Das Ganze fand vor großem Publikum statt.

Heute geht es zivilisierter zu: Die Waffe ist das Wort, das Publikum sitzt vor dem Bildschirm und stimmt mit der Fernbedienung ab.

Das Gespräch führte Thomas Schulz


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