TU intern - Mai 2000 - Forschung

Der Urknall ist nur eine physikalische Metapher

Der Blick über Disziplingrenzen hinweg wird immer wichtiger. Wie fruchtbar ein fächerübergreifender Dialog sein kann, zeigte die Veranstaltung "Reise zum Urknall", die im April in der Berliner Urania stattfand. Im folgenden Beitrag zeigt Horst-Heino v. Borzeszkowski, Professor am Institut für Theoretische Physik der TU Berlin, auf, was es mit dem Urknall in physikalischer Hinsicht auf sich hat. In der nächsten Ausgabe schreibt Prof. Hans Poser vom Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte über mythische und philosophische Vorstellungen vom Beginn der Welt.

Im Jahre 1917 veröffentlichte Albert Einstein eine Arbeit mit dem Titel "Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie". Darin versuchte er zu begründen, dass aufgrund seiner "Gravitationstheorie der allgemeinen Relativität" die im Mittel homogen und isotrop verteilte kosmische Materie zu einem Weltmodell führt, gemäß dem der dreidimensionale Weltenraum statisch und sphärisch ist. Um zu diesem Resultat zu gelangen, war er sogar bereit, eine - wie er sagte - Erweiterung seiner Feldgleichungen der Gravitation von 1915 einzuführen.

Es stellte sich aber bald heraus, dass nicht dieses Modell, sondern die von A. A. Friedmann berechneten den astronomischen Beobachtungen entsprachen. Danach ist die Raumstruktur nicht statisch, sondern zeitabhängig, mit der Folge, dass sich alle kosmischen Abstände ständig vergrößern und sich so die Galaxien immer weiter voneinander entfernen. Nach einigem Widerstreben akzeptierte auch Einstein diese Modelle.

Den unterschiedlichen Friedmannschen Modellen war eines gemeinsam: Aus den Berechnungen ergab sich eine Phase sehr hoher kosmischer Materiedichte und Temperatur. Verfolgt man die Entwicklung zeitlich weiter zurück, so gelangt man zu einem Zeitpunkt, zu dem die kosmische Materie in einem Raum von unendlich kleinem Volumen unendlich dicht komprimiert war.

Im Jahre 1931 schlug G. F. Lemaître vor, diesem Zeitpunkt einen physikalischen Sinn zu geben. Er sollte als jener Moment aufzufassen sein, in dem diese singuläre Materieverteilung zugleich mit dem sie erfüllenden singulären Raum zu expandieren beginnt, um nach 10-20 Milliarden Jahren zu der heute beobachteten kosmischen Raumstruktur und Materieverteilung zu führen. 1948 bezeichnete Gamov diese Interpretation als Theorie des "Big Bang", als die Theorie des Urknalls.

PHYSIKALISCHE SINNSTIFTUNG

Seit etwa 80 Jahren wird daher angenommen, dass das Universum expandiert, und seit gut 50 Jahren wird vom Urknall und manchmal gar vom Weltanfang gesprochen. Physiker und Astronomen suchen nach Charakteristika in der großräumigen Materieverteilung, die - wie die Hintergrund-Strahlung - Spuren früher und frühester Phasen der kosmischen Evolution sein könnten.

Dabei ist zu beachten, dass diese Spuren bestenfalls etwas über eine frühe kosmische Phase (die möglicherweise auch weit vor derjenigen der Entstehung der Hintergrund-Strahlung liegen kann) verraten, niemals aber Beleg für den Urknall im Sinne eines singulären Zustandes unendlich hoher Materiedichte sein können, aus dem die Welt "entstand". Sprechen Physiker und Astronomen heute vom Urknall, vom Anfang der Welt, vom Weltalter und so weiter, so ist das in der Regel entweder der Versuch, in populären Darstellungen durch lebensweltliche Bilder einen ansonsten sehr abstrakten wissenschaftlichen Gegenstand zu vermitteln, oder aber Jargon unter Fachkollegen, die wissen, was eigentlich damit gemeint ist.

Was bedeutet nun der - "Urknall" genannte - singuläre Anfangszustand, der in den Friedmannschen Weltmodellen auftritt und dem Lemaître eine physikalische Deutung geben wollte? Es gibt einen Grundtenor: Physik als Physik findet da ihre Gültigkeitsgrenze, wo sie ihre Fähigkeit zu rechnen und zu messen verliert. Diese Grenze zeigt sich hier darin, dass "Zustände" wie der Urknall auftreten, in denen die sie charakterisierenden Parameter und Zustandsgrößen physikalisch nicht sinnvoll definiert sind. Der Urknall ist also ein Defekt der Friedmannschen Weltmodelle, wobei zunächst offen bleibt, wo seine Ursache zu suchen ist. Fest steht für die meisten Physiker nur, dass dieses Problem mit physikalischen Mitteln, also durch eine Verbesserung der physikalischen Theorie zu lösen ist, woran auch gearbeitet wird.

Bei allem berechtigten Bestreben der Physiker, physikalische Probleme mit physikalischen Mitteln zu lösen, und bei allem Verständnis für einen gewissen "Jargon", sollte aber nicht vergessen werden, dass in der Kosmologie eine besondere begriffliche Klarheit anzustreben ist, die es auch erforderlich macht, über den Tellerrand der Physik hinauszuschauen. Denn die Kosmologie ist - wie insbesondere H. Bondi hervorhob - im Grenzgebiet zwischen Physik und Philosophie angesiedelt. Wird dieser Status der Kosmologie übersehen, kann es passieren, dass man glaubt, man habe es mit physikalischen Resultaten zu tun, während es sich tatsächlich um erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Kosmologie handelt.

EIN ANFLUG VON UNWIRKLICHKEIT

Davon betroffen sind besonders die Aussagen über die sehr frühen Phasen des Kosmos. S. Weinberg gesteht daher im Vorwort seines Buches "Die ersten drei Minuten", einen Anflug von Unwirklichkeit zu empfinden, weil so getan wird, als wüssten wir wirklich, wovon wir sprechen, wenn wir die Frühstphase des Universums darstellen. Die Wurzel dieses Unbehagens, das auch andere mit ihm teilen, liegt darin, dass die kosmologische Problemstellung, auf der Grundlage der Physik ein Modell für das Universum als Ganzes zu geben, die Aporie einschließt, generalisierende Induktionsschlüsse über ein per definitionem nur einmal gegebenes Objekt zu ziehen. Hieraus resultiert das Erfordernis einer besonderen philosophischen Nachdenklichkeit.

Prof. Dr. Horst-Heino v. Borzeszkowski


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