TU intern - November 2000 - Forschung
Die Philosophie der Quanten
Über den Standpunkt des Beobachters in der Quantenwelt
Der Theologe Adolf von Harnack (1851-1930) hat die theoretischen
Physiker als die wahren Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnet.
Die Notwendigkeit des Philosophierens ergab sich vor allem durch
die Schlüsselposition, die der Beobachter in der Quantentheorie
einnimmt.
Im täglichen Leben wird niemand behaupten, dass der Mond
nur dann am Himmel steht, wenn wir ihn anschauen. Aber in der
Mikrowelt entscheidet sich das Ergebnis eines Experiments tatsächlich
erst durch die Messung. Oder anders herum: Bevor eine quantenphysikalische
Größe gemessen wird, hat sie keinen bestimmten Wert.
Beispielsweise kann ein Elektron in einem gut von der Umgebung
isolierten Atom sich gleichzeitig auf zwei verschiedenen Kreisbahnen
um den Kern bewegen. Damit besitzt es keinen bestimmten Energiewert
- so lange, bis der Physiker eine Messung vornimmt.
Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger hat die
merkwürdigen Konsequenzen, die dies nach sich zieht, in seinem
berühmten Gedankenexperiment mit der Katze auf die Spitze
getrieben. In diesem wenig katzenfreundlichen Versuch stirbt das
eingesperrte Tier, sobald ein radioaktives Präparat im gleichen
Kasten zerfällt. Weil niemand sagen kann, wann das radioaktive
Atom zerfällt, beschreibt man es mathematisch als eine Überlagerung
der Zustände "zerfallen" und "nicht zerfallen".
Den Regeln der Quantenmechanik zufolge "entscheidet"
sich das Atom erst für einen bestimmten Zustand, wenn eine
Messung vorgenommen, also der Kasten geöffnet wird. Eine
noch lebende Katze bedeutet: Das Atom ist noch nicht zerfallen
- eine tote, dass der Zerfall bereits stattgefunden hat. Daraus
folgt aber, dass auch die Katze sich so lange, wie der Deckel
geschlossen bleibt, in einer Überlagerung der Zustände
"tot" und "lebendig" befinden müsste
(wobei die Wahrscheinlichkeit, eine lebende Katze vorzufinden,
natürlich mit der Zeit abnimmt).
Eine solche paradoxe Situation wird aber bei einer "echten"
Katze aus zwei Gründen niemals eintreten. Zum einen lässt
sich die Überlagerung von Zuständen nur in Systemen
beobachten, die so gut isoliert sind, dass sie nicht mit ihrer
Umgebung wechselwirken. Allein diese Bedingung kann ein Lebewesen
nicht erfüllen, denn es muss zumindest atmen. Darüber
hinaus sind quantenmechanische Effekte bei Objekten von der Größe
einer Katze noch nicht beobachtet worden. In modernen Experimenten
ist es aber bereits gelungen, Atome zu erzeugen, die sich gleichzeitig
in zwei verschiedenen Zuständen befinden. Unlängst gelang
es sogar Forschern im US-amerikanischen Stony Brook, einen supraleitenden
Strom zu erzeugen, der gleichzeitig in zwei verschiedenen Richtungen
floss. Solche Versuche sind besonders knifflig, da man eine Möglichkeit
finden muss, die überlagerten Zustände auf indirektem
Weg nachzuweisen, denn Messungen zerstören ja die Überlagerung.
Dazu wird die "Katze" in der Regel auf trickreiche Weise
an ein weiteres physikalisches System gekoppelt, auf das sie ihren
doppeldeutigen Zustand überträgt. Dieses System lässt
sich messen, ohne die "Katze" selber in ihren überlagerten
Zuständen zu stören.
Der Einfluss des Beobachters ist in der Quantenwelt also entscheidend.
Wie sein "Eingreifen" zu verstehen ist, darüber
herrscht aber bis heute keine Einigkeit. Besitzt der Beobachter
eine Sonderstellung, die ihn über die Materie erhebt, oder
ist er selbst eine Überlagerung quantenmechanischer Zustände?
Tatsächlich werden beide Positionen vertreten. Die "Geist-über-Materie"-Interpretation
behauptet beispielsweise, das menschliche Bewusstsein sei den
Regeln der Quantenmechanik nicht unterworfen, da diese nur für
Materie gälten. Folglich könnten wir durch bloße
Beobachtung bewirken, dass Objekte von unbestimmten Zuständen
in ein konkretes Dasein treten.
Diese Erklärung berücksichtigt jedoch nicht, dass Messapparate
den Ausgang eines Experiments ebenso beeinflussen können
wie ein mit Bewusstsein ausgestatteter Beobachter. Wäre das
nicht so, dann könnte man ein Messprotokoll - ohne es anzuschauen
- vervielfältigen und an Physikinstitute in aller Welt verschicken.
Die Ergebnisse blieben so lange vieldeutig, bis der erste Physiker
sein Exemplar des Protokolls angesehen hätte. In diesem Augenblick
wären auch die Ergebnisse auf allen anderen Kopien (verstreut
über die gesamte Welt!) wie durch Zauberei festgelegt.
Einen noch phantastischer klingenden Vorschlag zur Interpretation
des Messprozesses machte 1957 der amerikanische Physiker Hugh
Everett. Er ging davon aus, dass der Beobachter sich in mehrere
Kopien seiner selbst aufspaltet und dadurch jeden möglichen
Ausgang eines Experiments sieht. Er merkt nur deshalb nichts davon,
weil jede Kopie nach der Beobachtung in ihrem eigenen, parallel
existierenden Universum weiterlebt. Da für jedes denkbare
Ergebnis jeder quantenmechanischen Wechselwirkung Kopien des jeweiligen
Beobachters entstehen, existieren Everetts Theorie zufolge eine
fast unendliche Zahl paralleler Universen nebeneinander.
Umstritten ist im Rahmen dieser Theorie die Frage, ob wir andere
Universen besuchen könnten. Der britische Physiker David
Deutsch bejaht dies und kommt zu dem überraschenden Schluss,
dass Zeitreisen in Everetts "Viele-Welten-Theorie" ohne
Widersprüche möglich wären. Eines der wichtigsten
Argumente gegen Ausflüge in die Vergangenheit ist nämlich
in einem "Multiversum" nicht stichhaltig: Ein Zeitreisender
kann seine eigene Geburt ohne Schaden in der Vergangenheit eines
parallelen Universums verhindern. Die einzige Bedingung ist, dass
er ein Universum auswählt, in dem er nicht geboren wird.
Die Haltung der meisten Physiker lässt sich irgendwo zwischen
diesen beiden extremen Standpunkten ansiedeln. Bereits Niels Bohr
vertrat die pragmatische Sichtweise, die Physik könne lediglich
Aussagen über Dinge machen, die der Messung zugänglich
sind. Über den Rest empfahl er zu schweigen. Oder, wie Wolfgang
Pauli es formulierte: "Ob etwas, worüber man nichts
wissen kann, doch existiert, darüber soll man sich (...)
doch wohl ebensowenig den Kopf zerbrechen wie über die alte
Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze sitzen können."
Anne Hardy
Schrödingers Katze, das Pop-Art-Symbol der Quantentheorie.
In einer Kiste befindet sich eine Katze zusammen mit einem radioaktiven
Präparat. Zerfällt ein Atom dieses Präparats, wird
dies in einem Geigerzähler registriert. Daraufhin wird ein
Hammer in Bewegung gesetzt, der eine Giftflasche in der Kiste
zerschlägt - die Katze stirbt. Auf diese Weise hat man ein
quantenmechanisches System, das radioaktive Atom, an ein Objekt
aus unserer Alltagswelt, die Katze, gekoppelt. Für Objekte
der Quantenwelt gilt, dass sie sich so lange in einer Überlagerung
aller möglichen Messergebnisse befinden, bis eine Messung
gemacht wird.
Illustration: S. Juras, Agentur Iser & Putscher |
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