TU intern - November 2000 - Forschung
Die Quantentheorie und das kulturelle Milieu der Weimarer
Republik
An die Müdigkeit des Geistes glaubt heute niemand, so sehr
wir sie schon in allen Gliedern spüren. Aber zweihundert
Jahre Zivilisation und Orgien der Wissenschaftlichkeit - dann
hat man es satt. Nicht der Einzelne, die Seele der Kultur hat
es satt. Sie drückt das aus, indem sie ihre Forscher ...
immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt ... in der Physik,
wie in der Chemie, der Biologie, wie der Mathematik sind die großen
Geister tot ...". Diese Äußerungen des deutschen
Philosophen Oswald Spengler charakterisieren eine generelle Krisenstimmung,
die sich nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg
verbreitete. In seinem vielgelesenen Buch "Der Untergang
des Abendlandes" kritisierte Spengler insbesondere die Naturwissenschaften
und die Technik. Waren diese Fächer während des Krieges
noch hoch geschätzt worden, so geriet in der jungen Weimarer
Republik das Vertrauen in die naturwissenschaftliche Methode zunehmend
ins Wanken. Der Glaube an eine sichere, geordnete Welt war durch
den Krieg erschüttert.
"SPENGLERISMUS"
Die aufkeimende Bewegung der "Lebensphilosophie", der
auch Spengler angehörte, wandte sich entschieden gegen trockene
Gelehrsamkeit und eine rein verstandesmäßig geprägte
Weltanschauung. Binnen kurzer Zeit waren die Naturwissenschaftler
einer feindseligen Stimmung ausgesetzt. So wundert es nicht, dass
sie sich zu verteidigen suchten. Wissenschaft wurde nun nicht
mehr - wie im Krieg - durch ihre Nützlichkeit gerechtfertigt,
sondern als Teil der Kultur interpretiert: "das Wichtigste,
was man über sie (die Physik) sagen kann, ist, dass sie ein
Bedürfnis ist, dass sie aus dem Menschen hinauswächst
wie der Wunsch zu leben, zu spielen oder mit anderen eine Gemeinschaft
zu bilden", betonte der Physiker Hans Reichenbach 1929.
Der Wissenschaftshistoriker Paul Forman hat diese Reaktion als
eine Anpassung an das kulturelle Milieu der Weimarer Republik
interpretiert. Seiner Meinung nach ging dies so weit, dass mathematische
Physiker wie Richard von Mises und Gustav Doetsch ihr eigenes
Fach verabscheuten. Freilich kapitulierten Größen wie
Einstein nicht so leicht vor dem "Spenglerismus". In
einem Brief an Born gesteht er: "Man lässt sich gern
manchmal am Abend von ihm etwas suggerieren, und lächelt
am Morgen darüber." Doch der Historiker weist überzeugend
nach, dass viele Mathematiker und Physiker von der allgemeinen
Krisenstimmung ergriffen wurden. Damit stellte Paul Forman in
seiner 1971 veröffentlichten, Aufsehen erregenden Studie
als einer der Ersten die geistige Autonomie der modernen wissenschaftlichen
Disziplinen in Frage.
Doch Forman geht noch weiter: Er behauptet, dass die Forscher
nicht nur als Privatleute auf die Situation reagierten, sondern
sich sogar dazu verleiten ließen, ihre wissenschaftlichen
Theorien dem geistigen Milieu anzupassen. Der Philosoph Oswald
Spengler hatte in den zwanziger Jahren besonders das deterministische
Weltbild der Physik als eine "Erscheinung des Hasses gegen
die Mächte des Schicksals, des Unbegreiflichen" kritisiert.
Infolgedessen versuchten die Physiker, so Formans These, ihre
Theorien zu modifizieren. Sie gaben das Prinzip der Kausalität
auf, ohne dass es dafür einen innerwissenschaftlichen Grund
gegeben hätte. Zu den "Bekehrten" gehörten
der Mathematiker Hermann Weyl, die Physiker Walter Schottky und
Walther Nernst sowie zeitweise auch Erwin Schrödinger. So
gesehen bildete das geistige Klima der Weimarer Republik einen
fruchtbaren Boden für die Quantentheorie. Denn mit der Formulierung
der Unbestimmtheitsrelation durch Heisenberg im Jahr 1927 wurde
ein Abschied von der Kausalität auch vom physikalischen Standpunkt
aus notwendig.
ENDE DES KAUSALITÄTSPRINZIPS
Unter Wissenschaftshistorikern sind Formans Thesen allerdings
heftig umstritten. Einer seiner Gegner, der britische Historiker
John Hendry, gesteht zwar zu, dass die Forscher mit den Wertevorstellungen
der Weimarer Republik vertraut waren, sieht aber ihre Ablehnung
des Kausalitätsprinzips vor allem durch fachliche Argumente
begründet. Einen ersten Hinweis auf akausale Vorgänge
fanden die Physiker bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei
der Interpretation des radioaktiven Zerfalls, bei dem nicht angegeben
werden kann, warum ein Atom zu einem bestimmten Zeitpunkt zerfällt.
Hendry schließt den Einfluss des kulturellen Umfelds nicht
gänzlich aus, besteht aber darauf, dass es immer auch physikalische
Gründe gibt, wenn eine Theorie verworfen oder verändert
wird. So scheint also ein komplexes Geflecht aus inneren und äußeren
Gründen dazu geführt zu haben, dass die Physiker sich
schließlich vom Kausalitätsprinzip verabschiedeten.
"Die Reaktion eines jeden Physikers auf ein gegebenes Problem
wird durch einen Komplex von Motiven bestimmt, von denen viele
keiner historischen Objektivierung zugänglich sind",
fasst Hendry zusammen. Zu den historisch "nicht-objektivierbaren"
Motiven zählt auch die psychologische Seite des Denkprozesses.
Als Beispiel zitiert der Wissenschaftshistoriker Karl von Meyenn
den brillanten Physiker Wolfgang Pauli, der sich als einer der
wenigen Naturwissenschaftler mit der Rolle des Unbewussten befasste.
Pauli pflegte einen intensiven Dialog mit dem Psychoanalytiker
Carl Gustav Jung und übernahm dessen Konzept der "Archetypen".
Dabei soll es sich um universal gültige Urbilder handeln,
die jeder Mensch - unabhängig von seiner Herkunft und Bildung
- in sich trägt. Jung glaubte an ein "kollektives Unbewusstes",
das alle Menschen miteinander gemeinsam haben.
Als Physiker war Pauli davon besonders fasziniert. Seiner Ansicht
nach waren das unbewusste und das bewusste Erleben des Menschen
im quantenphysikalischen Sinne zueinander komplementär. Das
bedeutet, dass sie sich gegenseitig bedingen. Demnach muss das
Unbewusste auch an wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen beteiligt
sein. Pauli glaubte, dass "Geistesblitze" in solchen
Momenten zustande kommen, wo unbewusste innere Bilder mit äußeren
Objekten wie mathematischen Formeln zur Deckung gebracht werden.
Anne Hardy
Leserbriefe
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