TU intern - November 2000 - Forschung

Die Quantentheorie und das kulturelle Milieu der Weimarer Republik

Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Themenheft "Entdeckung des Zufalls", herausgegeben von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Hauptstraße 20a, 53604 Bad Honnef, E-Mail: presse@dpg-physik.de
An die Müdigkeit des Geistes glaubt heute niemand, so sehr wir sie schon in allen Gliedern spüren. Aber zweihundert Jahre Zivilisation und Orgien der Wissenschaftlichkeit - dann hat man es satt. Nicht der Einzelne, die Seele der Kultur hat es satt. Sie drückt das aus, indem sie ihre Forscher ... immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt ... in der Physik, wie in der Chemie, der Biologie, wie der Mathematik sind die großen Geister tot ...". Diese Äußerungen des deutschen Philosophen Oswald Spengler charakterisieren eine generelle Krisenstimmung, die sich nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verbreitete. In seinem vielgelesenen Buch "Der Untergang des Abendlandes" kritisierte Spengler insbesondere die Naturwissenschaften und die Technik. Waren diese Fächer während des Krieges noch hoch geschätzt worden, so geriet in der jungen Weimarer Republik das Vertrauen in die naturwissenschaftliche Methode zunehmend ins Wanken. Der Glaube an eine sichere, geordnete Welt war durch den Krieg erschüttert.

"SPENGLERISMUS"

Die aufkeimende Bewegung der "Lebensphilosophie", der auch Spengler angehörte, wandte sich entschieden gegen trockene Gelehrsamkeit und eine rein verstandesmäßig geprägte Weltanschauung. Binnen kurzer Zeit waren die Naturwissenschaftler einer feindseligen Stimmung ausgesetzt. So wundert es nicht, dass sie sich zu verteidigen suchten. Wissenschaft wurde nun nicht mehr - wie im Krieg - durch ihre Nützlichkeit gerechtfertigt, sondern als Teil der Kultur interpretiert: "das Wichtigste, was man über sie (die Physik) sagen kann, ist, dass sie ein Bedürfnis ist, dass sie aus dem Menschen hinauswächst wie der Wunsch zu leben, zu spielen oder mit anderen eine Gemeinschaft zu bilden", betonte der Physiker Hans Reichenbach 1929.

Der Wissenschaftshistoriker Paul Forman hat diese Reaktion als eine Anpassung an das kulturelle Milieu der Weimarer Republik interpretiert. Seiner Meinung nach ging dies so weit, dass mathematische Physiker wie Richard von Mises und Gustav Doetsch ihr eigenes Fach verabscheuten. Freilich kapitulierten Größen wie Einstein nicht so leicht vor dem "Spenglerismus". In einem Brief an Born gesteht er: "Man lässt sich gern manchmal am Abend von ihm etwas suggerieren, und lächelt am Morgen darüber." Doch der Historiker weist überzeugend nach, dass viele Mathematiker und Physiker von der allgemeinen Krisenstimmung ergriffen wurden. Damit stellte Paul Forman in seiner 1971 veröffentlichten, Aufsehen erregenden Studie als einer der Ersten die geistige Autonomie der modernen wissenschaftlichen Disziplinen in Frage.

Doch Forman geht noch weiter: Er behauptet, dass die Forscher nicht nur als Privatleute auf die Situation reagierten, sondern sich sogar dazu verleiten ließen, ihre wissenschaftlichen Theorien dem geistigen Milieu anzupassen. Der Philosoph Oswald Spengler hatte in den zwanziger Jahren besonders das deterministische Weltbild der Physik als eine "Erscheinung des Hasses gegen die Mächte des Schicksals, des Unbegreiflichen" kritisiert. Infolgedessen versuchten die Physiker, so Formans These, ihre Theorien zu modifizieren. Sie gaben das Prinzip der Kausalität auf, ohne dass es dafür einen innerwissenschaftlichen Grund gegeben hätte. Zu den "Bekehrten" gehörten der Mathematiker Hermann Weyl, die Physiker Walter Schottky und Walther Nernst sowie zeitweise auch Erwin Schrödinger. So gesehen bildete das geistige Klima der Weimarer Republik einen fruchtbaren Boden für die Quantentheorie. Denn mit der Formulierung der Unbestimmtheitsrelation durch Heisenberg im Jahr 1927 wurde ein Abschied von der Kausalität auch vom physikalischen Standpunkt aus notwendig.

ENDE DES KAUSALITÄTSPRINZIPS

Unter Wissenschaftshistorikern sind Formans Thesen allerdings heftig umstritten. Einer seiner Gegner, der britische Historiker John Hendry, gesteht zwar zu, dass die Forscher mit den Wertevorstellungen der Weimarer Republik vertraut waren, sieht aber ihre Ablehnung des Kausalitätsprinzips vor allem durch fachliche Argumente begründet. Einen ersten Hinweis auf akausale Vorgänge fanden die Physiker bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Interpretation des radioaktiven Zerfalls, bei dem nicht angegeben werden kann, warum ein Atom zu einem bestimmten Zeitpunkt zerfällt. Hendry schließt den Einfluss des kulturellen Umfelds nicht gänzlich aus, besteht aber darauf, dass es immer auch physikalische Gründe gibt, wenn eine Theorie verworfen oder verändert wird. So scheint also ein komplexes Geflecht aus inneren und äußeren Gründen dazu geführt zu haben, dass die Physiker sich schließlich vom Kausalitätsprinzip verabschiedeten.

"Die Reaktion eines jeden Physikers auf ein gegebenes Problem wird durch einen Komplex von Motiven bestimmt, von denen viele keiner historischen Objektivierung zugänglich sind", fasst Hendry zusammen. Zu den historisch "nicht-objektivierbaren" Motiven zählt auch die psychologische Seite des Denkprozesses. Als Beispiel zitiert der Wissenschaftshistoriker Karl von Meyenn den brillanten Physiker Wolfgang Pauli, der sich als einer der wenigen Naturwissenschaftler mit der Rolle des Unbewussten befasste. Pauli pflegte einen intensiven Dialog mit dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung und übernahm dessen Konzept der "Archetypen". Dabei soll es sich um universal gültige Urbilder handeln, die jeder Mensch - unabhängig von seiner Herkunft und Bildung - in sich trägt. Jung glaubte an ein "kollektives Unbewusstes", das alle Menschen miteinander gemeinsam haben.

Als Physiker war Pauli davon besonders fasziniert. Seiner Ansicht nach waren das unbewusste und das bewusste Erleben des Menschen im quantenphysikalischen Sinne zueinander komplementär. Das bedeutet, dass sie sich gegenseitig bedingen. Demnach muss das Unbewusste auch an wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen beteiligt sein. Pauli glaubte, dass "Geistesblitze" in solchen Momenten zustande kommen, wo unbewusste innere Bilder mit äußeren Objekten wie mathematischen Formeln zur Deckung gebracht werden.

Anne Hardy


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