TU intern - April 2001 - Forschung

Hochtechnologie:

Ist der Mensch ein Risikofaktor?

In diesem Monat jährt sich zum 15. Mal der schlimmste Unfall in der Geschichte der Kernenergie-Nutzung. Auch wenn nicht alle Unfälle mit der modernen Technik derart folgenschwer sind wie der GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl - die Angst, wir hätten Kräfte ins Leben gerufen, die wir noch nicht beherrschen, sitzt seit Tschernobyl tief. Denn zum Menschsein gehört es auch, fehlbar zu sein. Ist damit der Mensch zwangsläufig ein unberechenbarer Risikofaktor in Hochtechnologien?

Häufig wird angenommen, dass eingegangene Risiken oder dass Verletzungen von Vorschriften die Ursachen von Unfällen sind. Auch die erste Bewertung des Tschernobyl-Unfalls führte zu dem üblichen Ergebnis: "Unentschuldbares menschliches Fehlverhalten der Betriebsmannschaft". Gleich ob Zugunglücke, Flugzeugabstürze oder gekenterte Fähren - im Nachhinein kommt es immer zu ersten Schuldzuschreibungen an direkt beteiligte Personen. So entsteht der Eindruck, dass der Mensch beim Arbeiten in Hochtechnologien einen Risikofaktor darstellt, weil er Fehler macht. Aus zwei Gründen ist dieser Eindruck aber falsch: Erstens ist es im Nachhinein immer einfach, zu sagen, dieses Verhalten war falsch, war ein Fehler, nachdem die Konsequenzen bekannt sind. In der jeweiligen Situation ist es dagegen in der Regel nicht so einfach: Konsequenzen sind vielfach nicht klar; häufig hat exakt das gleiche Verhalten in der Vergangenheit zu positiven Ergebnissen und nicht zum Unfall geführt. Auch die Situationen selbst sind immer eindeutig, wenn beispielsweise Anzeigen fehlerhaft oder widersprüchlich sind. Wie kann man dann von Fehlern oder von Regelverletzungen sprechen?

Zweitens zeigen Unfalluntersuchungen von Fachleuten, dass das Verhalten von beteiligten Personen nicht alleine als Unfallursache gelten kann, sondern dass nur das Zusammenspiel von vielen Faktoren zum Unfall führte. Auch in Tschernobyl war der GAU das Resultat eines komplexen Zusammenwirkens von verschiedensten Faktoren. Neben unsicheren Handlungen der Operateure trugen eben auch mangelhafte Arbeitsbedingungen, nachlässige Aufsicht, fehlende Kommunikation unter den Beteiligten, weit zurückliegende Fehlentscheidungen des Managements, unbedachte Interventionen der Moskauer Behörde und weitere organisationale und technische Schwachstellen im System zum Unfall bei. Denn sämtliche Einrichtungen hohen Gefährdungspotenzials sind heute durch gestaffelte technische Barrieren wie Redundanzen ("defence in depth") oder organisationale Barrieren wie das Vier-Augen-Prinzip so ausgelegt, dass Einzelhandlungen direkt beteiligter Operateure nie allein zu einem katastrophalen Systemzusammenbruch führen können.

Außerdem - welche Konsequenzen müssten gezogen werden? Sollten Flugzeuge ohne Piloten fliegen, Kernkraftwerke ohne Kontrollraumpersonal arbeiten? Hier wird klar, wie absurd dieser Gedanke ist. Schließlich kann der Mensch auch unvorhergesehene Situationen meistern. Es sind gerade menschliche Fähigkeiten wie komplexes Problemlösen und reaktionsschnelles Handeln, die kritische Situationen retten.

Unfälle wie Tschernobyl, die Zunahme von großtechnischen Systemen ("high hazard organizations") wie Kernkraftwerke oder chemische Anlagen und neuere Entwicklungen wie die Gentechnik erzwangen international eine konsequente Wende der Sicherheitswissenschaften hin zur Ausweitung des Sicherheitsdenkens und zur interdisziplinären Kooperation von Psychologie, Ingenieurwissenschaften, Soziologie, Politologie, Versicherungswesen und Jurisprudenz. Der unverzichtbare menschliche Beitrag zu Sicherheit und Zuverlässigkeit derartiger Einrichtungen tritt dabei immer mehr in das Zentrum wissenschaftlicher Betrachtungen. Das Motto ist: weg vom Risikofaktor "einzelner Mensch", hin zur Berücksichtigung von Beiträgen der Organisation und des Managements sowie inter-organisationaler Verflechtungen. Genau dies entspricht der thematischen Ausrichtung der 1990 gegründeten Forschungsstelle Systemsicherheit (FSS) des Instituts für Psychologie der TU Berlin.

Bernhard Wilpert/Babette Fahlbruch


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