TU intern - Februar/März 2001 - Aktuelles

Preußen - fraglos zu feiern?

Ein Beitrag zum 300-jährigen Jubiläum

Am 18. Januar 1701 wurde der märkische Kurfürst Friedrich III. feierlich als König Friedrich I. "in Preußen" inthronisiert: ein wichtiger Schritt des kleinen Staates am Rande Mitteleuropas auf dem Weg zur Großmacht - und zweifellos ein Anlass, sich Preußens zu erinnern. Aber auch ein Grund, ein "Preußenjahr" auszurufen und die seit mehr als einem halben Jahrhundert verblichene, vormalige deutsche Hegemonialmacht zu feiern?

"Preußen" war zunächst ein kleiner Staat, dem unter ungünstigen Bedingungen ein erstaunlicher Aufstieg gelang. Die Existenz dieses in die anfangs übergroßen Gewänder einer europäischen Großmacht geschlüpften vormaligen Kleinstaates blieb freilich immer prekär: 1763 konnte Friedrich II. die Stellung seines in einem siebenjährigen Krieg ausgelaugten Reiches als führende Macht etablieren. 1806, nach der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstedt gegen die napoleonischen Truppen stand das - politisch wie militärisch erstarrte Preußen - vor der Auflösung; sie kann nur mit viel Glück und französischem Wohlwollen abgewendet werden. Danach: Ein zweiter Frühling, eine trotz aller politischen Erstarrung ungemein wirtschaftliche Dynamik, die die nach Österreich zweite deutsche Hegemonialmacht dazu prädestiniert, zum Motor der deutschen Einigung zu werden - durchgesetzt und vollzogen vom konservativen Pragmatiker Bismarck, dem "weißen Revolutionär".

Prekär bleibt freilich auch die Existenz Preußen-Deutschlands nach 1871, eines Staates, dem nun die Kleider einer "normalen" europäischen Großmacht zu eng geworden schienen. Handfeste materielle Interessen, gepaart mit Hybris der politischen wie militärischen "Lenker" und einem verbreiteten Gefühl, als imperialistische Macht "zu spät" gekommen zu sein, treiben das wilhelminische Deutschland und mit jenem auch das Preußen der Hohenzollern 1914/18 in den Untergang.

VIELSCHICHTIG UND WIDERSPRÜCHLICH

Was aber charakterisiert Preußen? Was war an diesem Staat so "besonders"? Wenn die Ansichten über den "wahren Kern" Preußens und des Preußisch-Seins so zahlreich wie unterschiedlich waren und sind, dann ist dies zugleich eine erste Antwort: "Preußen" lässt sich nicht auf einen Nenner bringen, "Preußen" war höchst vielschichtig und widersprüchlich. Nur einige Schlaglichter: Mirabeau, so wird kolportiert, habe einmal festgestellt, Preußen sei kein Staat gewesen, der eine Armee besitzt, sondern eine Armee, die einen Staat besessen habe. In der Tat: Namentlich der "Soldatenkönig", der zwar selbst keine Kriege führte, seine Armee jedoch zur viertgrößten Europas machte, und sein kriegsfreudiger Sohn - aufgrund seiner intellektuellen Potenzen und seines Reformwillens dennoch mit Recht "der Große" genannt - verankerten nicht nur den Primat der Staatsräson, sondern ebenso den Primat des Militärischen, auch in der preußischen Zivilgesellschaft. Die Befreiungskriege 1813/15 frischten die verwelkten kriegerischen Lorbeeren auf und erhöhten den Status des Militärischen weiter. 1848 wurden in den meisten deutschen Staaten die Armeen auf die neuen Verfassungen verpflichtet, nicht dagegen in Preußen. Die Armee blieb ein vor demokratischen Anfechtungen abgeschirmter Staat im Staate, dessen Ansehen durch die glorreichen Siege 1864, 1866 und 1871 erneut gesteigert wurde; militärischer "Geist" und militärisches Gehabe drangen tiefer in alle Poren der Zivilgesellschaft ein.

Diese Strukturschwäche Preußens blieb klugen Zeitgenossen nicht verborgen. Friedrich Meinecke, bis Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts borussisch geprägter Nestor der deutschen Historiographie, Herzensmonarchist und Vernunftrepublikaner, hat im Mai 1919 unter dem Eindruck von militärischem Zusammenbruch und Novemberrevolution die für ihn bittere Feststellung treffen müssen, "dass der preußische Staat eigentlich ein künstlicher gewesen sei, auf einem Mechanismus autoritärer Einrichtungen beruht" habe, "zu sehr von oben her, zu wenig von unten her aufgebaut" gewesen sei.

REFORMEN VON OBEN

Preußen wurde freilich nicht nur zum Inbegriff für Kadavergehorsam und Obrigkeitshörigkeit, sondern ebenso für die lichten Seiten neuzeitlicher Staaten. Schon frühzeitig bot die Hohenzollernmonarchie zahlreichen, vor allem aus religiösen Gründen vertriebenen Minderheiten Zuflucht und eine neue Heimat. Unter dem "aufgeklärten Monarchen" Friedrich II., der die Folter abschaffte sowie Justiz und Verwaltung modernisierte, wurde Preußen zu einem Land der "Reformen von oben". Seine Forderung, jeder solle nach seiner Facon selig werden, war nach der Eroberung des mehrheitlich katholischen Schlesien freilich auch ein Gebot der Staatsräson. Und doch verfolgte Preußen im 19. Jahrhundert eine zeitweilig schroffe Germanisierungspolitik in Posen, die mit dem Postulat religiöser, politischer und kultureller Toleranz kaum zu vereinbaren ist.

Der Reformgesetzgebung 1807 bis 1815/20, unter dem Druck des revolutionär aufgewühlten Frankreich konzipiert, ist eine die preußische Geschichte prägende Zwiespältigkeit gleichfalls anzumerken: Das Emanzipationsedikt von 1812 etwa versprach den Juden die Aufhebung der bestehenden Rechtsbeschränkungen. Tatsächlich wurde die Gleichstellung der Juden nach 1815 auf die preußischen Kernlande begrenzt und vor allem praktisch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder unterlaufen. Der Emanzipationsprozess verlief schleppend und musste vielfach gegen den Willen der Hohenzollern durchgesetzt werden. Ende des 19. Jahrhunderts, auch das gehört zur Geschichte des Hohenzollernstaates, wurde Preußen zu einem der Zentren des modernen Antisemitismus, salonfähig gemacht u. a. durch den Hof- und Domprediger Stoecker sowie die Ordinarien Lagarde und Treitschke. Letzterer wiederum (auch das macht deutlich, wie wenig die preußische Geschichte zum Klischee taugt) stieß mit seinen judenfeindlichen Ausfällen auf vehementen Widerspruch seiner Berliner Kollegen, allen voran Theodor Mommsen.

MYTHEN BLÜHTEN

Die hochgradige Ambivalenz, positiv formuliert: der Facettenreichtum Preußens, der die Geschichte dieses Staates überaus spannend sein lässt, ist mit diesen Bemerkungen nur angedeutet. Sie sollten freilich deutlich gemacht haben, dass "Preußen" nicht zur vorbehaltlosen Identifikation taugt. Ebenso wenig eignet sich Preußen indes als Negativmythos: 1919 fürchtete Hugo Preuß, einer der Väter der Weimarer Verfassung, dass Preußen, eine "Zufallsbildung rein dynastischer Hauspolitik", der "demokratischen Selbstorganisation des deutschen Volkes im Wege" stünde und seine Weiterexistenz das Prinzip preußentypischer "Untertänigkeit" perpetuiere. Entgegen seinen Befürchtungen war Preußen jedoch keine Belastung des Föderalismus der ersten deutschen Republik, sondern eher ein demokratisches Bollwerk, das nur mit Gewalt, durch den so genannten Papen-Putsch vom Juli 1932, eingerissen werden konnte. Einem grob gerasterten Negativmythos saßen schließlich die Alliierten auf, als sie am 25. Februar 1947 per Gesetz die definitive Auflösung Preußens verfügten.

"Preußen" diente und dient mitunter heute noch als Projektionsfläche. Das "Preußenjahr" 2001 mag ein Anlass sein, sich dieses untergegangenen Staates, seiner Schwächen und seiner Erfolge zu erinnern. Die Geschichte Preußens allerdings ist seit einem halben Jahrhundert zu Ende, seine feierliche Wiederauferstehung nicht zu wünschen.

Rüdiger Hachtmann


Leserbriefe

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