TU intern - Juli 2001 - Aktuelles
Nachgefragt
Ist die gesetzliche Krankenversicherung noch zu retten?
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"Man muss kein Verfechter eines Wettbewerbs nach US-amerikanischem
Muster sein, aber mehr Wettbewerb und damit eine größere
Politikferne täte unserem Gesundheitssystem schon gut."
Klaus Dirk Henke |
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Dem "Patienten" geht es schlecht. Schon kündigen
die großen Krankenkassen massive Beitragserhöhungen
an und fordern die Bundesregierung auf, umgehend stabilisierende
Maßnahmen zu ergreifen. Die CDU hat ein Strategiepapier
vorgelegt, in dem sie eine zweistufige Versicherung mit Kern-
und Wahlleistungen fordert.
Auch die Kassenärztliche Vereinigung hält den Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenkassen für zu umfangreich und schlug
vor, sie solle nur noch für unverzichtbare medizinische Leistungen
aufkommen. Die Patienten sind verunsichert und befürchten,
nicht mehr die besten Medikamente zu erhalten oder sinnvolle Leistungen
vorenthalten zu bekommen, weil die Ärzte sparen müssen.
Wie sollte der "Patient" nun behandelt werden - Pflaster
und Kräutertee oder lieber gleich Totaloperation? TU intern
befragte dazu den Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Klaus Dirk
Henke vom Institut für Volkswirtschaftslehre.
Ist es möglich, das System der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) unter "Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven"
und weiterer Maßnahmen vorübergehend zu stabilisieren?
Das Vorhandensein von Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen
wird von den verschiedenen Akteuren sehr unterschiedlich beurteilt.
Die Krankenkassen sagen ja, die Ärzte, die Krankenhäuser
und andere Leistungserbringer eher nein. Ich bin der Ansicht,
dass in einer Wachstumsbranche wie dem Gesundheitswesen, immer
Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Die zu mobilisieren,
ist eine Daueraufgabe. Dazu bedarf es neuer Anreizstrukturen und
anderer Finanzierungs- und Vergütungssysteme, d. h. einer
grundlegenden Reform. Kurzfristig kann man immer durch strengere
Budgetierung Beitragssatzstabilisierung herbeiführen. Aber
diese diskretionären Eingriffe, von denen wir schon viel
zu viele hatten, führen zu keiner ordnungspolitisch dauerhaften
Lösung und nicht zur Europatauglichkeit der GKV.
Wo liegen also die langfristigen Wirtschaftlichkeitsreserven?
Man muss kein Verfechter eines Wettbewerbs nach US-amerikanischem
Muster sein, aber mehr Wettbewerb und damit eine größere
Politikferne täte unserem Gesundheitssystem schon gut. Dazu
gehört eine stärker wettbewerblich und damit ergebnisorientierte
Vergütung der Leistungserbringer genauso wie mehr Wahl- und
Wechselmöglichkeiten für die Versicherten.
Unser "Leistungskatalog" ist der opulenteste in ganz
Europa und kann sicherlich, wenn man politisch will, eingeengt
werden. Versicherungsfremde Leistungen, Familienleistungen und
auf lange Sicht die zahnmedizinische Versorgung gehören nicht
zur Grundversorgung. Leider führt eine allzu verständliche
politische Rationalität dazu, jedem Bürger alle Leistungen
möglichst "kostenlos" zur Verfügung zu stellen,
um eine so genannte Zweiklassenmedizin zu vermeiden. Dabei benötigen
wir angesichts der ganz unterschiedlichen Behandlungssituationen
eine Vielklassenmedizin. Natürlich müssen Krankheiten,
die die Existenz bedrohen, abgesichert sein. Allerdings sollte
man auch wissen: Für mehr als eine Million Engländer
in der Warteschlange und für mehr als 44 Millionen Amerikaner
ist eine solche Grundsicherung nicht gegeben, und in diesen Ländern
wird nur selten von Zweiklassenmedizin gesprochen.
Chronische Krankheiten gewinnen angesichts der demographischen
Herausforderung an Bedeutung und sollten auch prioritär behandelt
werden. Eine Erhöhung der Beiträge fällt bei der
Lohnbezogenheit ihrer Erhebung immer schwerer, weil Deutschland
angesichts der Lohnkosten im internationalen Wettbewerb immer
weiter zurückfällt. Prämienzahlungen wären
die bessere Lösung, d. h. die Abkoppelung von den Löhnen
und Gehältern als Bemessungsgrundlage.
Könnte die Einschränkung des Leistungskatalogs "britische
Verhältnisse" bedeuten, d. h. dass selbst bestimmte
lebensverlängernde Behandlungen gänzlich bzw. ab einem
bestimmtem Alter nicht mehr von der GKV übernommen werden,
weil sie zu teuer sind?
Britische Verhältnisse sehe ich nicht auf uns zukommen; für
eine derartige Politik gibt es bei uns keine Unterstützung.
Noch sind wir ein reicheres Land, das dementsprechend wohl auch
mehr für die Krankenversorgung und die gesundheitliche Betreuung
der Bevölkerung ausgegeben kann. Besser wäre es, wenn
Berlin seine Überkapazitäten zur Behandlung von Patienten
in der Warteschlange zur Verfügung stellt. So wie jetzt Norweger
in Schleswig-Holstein behandelt werden, ließe sich eine
vergleichbare Situation für Engländer und andere Europäer
in Berlin schaffen.
Brauchen wir auf lange Sicht eine völlige Umstrukturierung
des Krankenversicherungssystems? Welches Modell erscheint am geeignetsten?
Ja, wir brauchen eine grundsätzliche Neustrukturierung der
Absicherung von Krankheitsrisiken. Ich arbeite mit meinen Mitarbeiten
an einem System mit Mindestversicherungspflicht für alle
und Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen. Die Mindestversicherung
könnte auf hohem Niveau beginnen - etwa vergleichbar mit
dem jetzigen "Leistungskatalog" der GKV und würde
Möglichkeiten der Zusatzversorgung über die individuellen
Konsumausgaben und Zusatzversicherungen umfassen.
Wir lösen das System von seiner Lohnanbindung und führen
die jetzige GKV mit der Privaten Krankenversicherung zusammen.
Mit der Trennung der beiden "Systeme" kommen wir zu
einer neuen Anbieterpluralität, die in einem privat-rechtlichen
Rechtsrahmen das bestehende Umlageverfahren sukzessive durch ein
Kapitalbildungsverfahren ersetzt. Hierzu haben wir erste Berechnungen
vorgelegt und gezeigt, dass ein solches Modell zumindest denkbar
wäre. Über die nächsten Jahre käme es mehr
und mehr zu der erforderlichen Privatisierung der GKV.
Das Gespräch führte Bettina Micka
Henke, K.-D., "Kapitalbildung auch im Gesundheitswesen auf
dem Weg zu einer ordnungspolitischen Erneuerung der Krankenversicherung.
Diskussionspapier zu Staat und Wirtschaft, Nr. 27, 2001, ISSN
1438-2598
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Leserbriefe
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