TU intern - Mai 2001 - Lehre & Studium
Lehre, Lehre über alles?
Lehrkräftemangel führte zu Prüfungsgau
In den Medien wird zurzeit viel diskutiert über Verbesserung
der Lehre, die Schaffung von idealen Studienbedingungen und die
Verringerung der Durchfallquoten. Selbst Eliteuniversitäten,
wie beispielsweise Stanford, rücken die Betreuung von Anfängerstudenten
in den Mittelpunkt. "Jeder Student soll schon in den ersten
Semestern in einem Seminar mit höchstens 16 Teilnehmern einem
herausragenden Professor begegnen. Die besten werden in die Lehrveranstaltungen
für die Undergraduates geschickt." (Gerhard Casper,
Präsident der Stanford University).
Wie stellt sich im Vergleich dazu ein Erstsemester an der TU Berlin
dar?
Ich möchte konkret über meine Erfahrungen aus der Veranstaltung
"Computerorientierte Mathematik I"
im Wintersemester 2000/2001 berichten. Diese Veranstaltung, ist
Teil eines zweisemestrigen Zyklus', der den Studenten der Techno-
und Wirtschaftsmathematik sowie einigen Ingenieurfachrichtungen
(ITM) eine Basisausbildung in Kernkomponenten der Informatik bietet.
Unterrichtsmaterialien stehen im WWW bereit, etwa jede dritte
Vorlesung ist multimedial unter Einsatz eines (selbst finanzierten
und geschleppten) Beamers. Der Kurs ist trotz seiner hohen Anforderungen
sehr beliebt, in den Bewertungen der Lehre durch die Teilnehmer
erzielt er regelmäßig Noten zwischen 1 und 2.
Zum Wintersemester 2000/2001 kamen nun statt der üblichen
etwa 70 bis 90 Studenten 220. Dies ohne jede Vorwarnung, denn
die TU Berlin hat kein Vorwarnsystem, das hohe Anmeldezahlen rechtzeitig
signalisiert, sodass man rechtzeitig gegensteuern könnte.
Allerdings wäre das Gegensteuern in diesem Fall auch schwierig
gewesen, da die Studentenzahlen in der gesamten Mathematik (insbesondere
auch im Servicebereich) gestiegen sind. Erschwerend kam in dieser
Situation hinzu, dass wegen der guten Marktlage für Studenten
mit Java-Kenntnissen kein Student bereit war, als Tutor in dieser
Veranstaltung mitzuwirken. Namhafte Firmen zahlen bereits DM 35,-
pro Stunde denjenigen, die "nur die PC-Netze zusammenstöpseln".
So musste die Veranstaltung neben mir als Hochschullehrer mit
nur 3,5 wissenschaftlichen Mitarbeitern durchgeführt werden.
Wie sich dabei die Betreuung im Programmierpraktikum gestaltete,
kann man sich vorstellen: Vierer-Übungsgruppen an Rechnern,
wenig betreute Rechnerzeiten, kaum spezielle Anleitung bei individuellen
Problemen, insbesondere bei Studenten ohne Programmiervorkenntnisse,
nur partielle Korrektur der Hausaufgaben, Frontalübung, keine
Tutorien.
Beim ersten schriftlichen Test kurz vor Weihnachten ergab sich
dann der befürchtete GAU. Die Anzahl der Teilnehmer wurde
von 220 auf 107 reduziert - Durchfallquote 50 Prozent. Damit ergab
sich nach Weihnachten eine bessere Betreuungsrelation, aber es
konnten immer noch keine Tutorien angeboten werden. Der zweite
Test erfolgte in mündlicher Form (acht Manntage Arbeit).
Fazit am Ende des Kurses: Kaum mehr als ein Drittel der Teilnehmer
ist übrig geblieben, gegenüber zwei Drittel sonst. Dies
bedeutet eine Verdoppelung der üblichen Durchfallquote.
Hätte ich das Niveau senken sollen, um mehr Studenten zum
Erfolg zu führen, versteht man das unter erfolgreicher Lehre?
Ich glaube kaum und bin auch nicht dazu bereit. Hätte man
über die übliche Lehrverpflichtung hinaus mit dem vorhandenen
Personal mehr Betreuung leisten müssen? Dies käme einer
verkappten Erhöhung der Lehrverpflichtung gleich, und kann
sicher nicht hingenommen werden.
Was bleibt also zu tun? Sicherlich müssen wir versuchen,
mehr Studenten für die Mitarbeit zu motivieren und sie von
einer vordergründig attraktiven, aber für das Studium
möglicherweise abträglichen Tätigkeit in der Industrie
abzuhalten. Dies wird nicht immer leicht sein. Im Grunde bleiben
jedoch nur zwei Möglichkeiten: entweder eine bessere personelle
Ausstattung für diesen informatiknahen Teil der Mathematik,
oder man schafft ähnlich der Informatik einen Numerus clausus
und beschränkt die Zulassungszahl. Es sollte uns jedenfalls
klar sein, dass die Qualität der Ausbildung unter den Verhältnissen,
die diesem Semester zugrunde lagen, ganz enorm leidet.
Prof. Dr. Rolf H. Moehring
PS: Inzwischen wurden vom Fachbereich Mathematik
(als wohl erstem mathematischem Fachbereich in Deutschland) Zulassungsbeschränkungen
beschlossen, die noch durch den AS bestätigt werden müssen.
Leserbriefe
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