TU intern - Januar 2002 - Forschung

Wissenschaftsgeschichte und Philosophie

Das Bild der Welt


Verzerrte Proportionen bei El Greco - wie sieht die Welt wirklich aus?

Episteme ist griechisch und heißt “Wahrheit“. Die Epistemologie ist demnach eine Wissenschaft, die nach der Wahrheit unserer Theorien fragt, eine besondere Form der Erkenntnistheorie also. Seit 1996 beschäftigt sich Dr. Ladislav Kvasz mit diesem Thema. Zurzeit erforscht der Humboldtstipendiat “Grundlagen der formalen Epistemologie“ bei Professor Eberhard Knobloch am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Die formale Epistemologie entstand an der Grenze zwischen Wissenschaftsgeschichte und Philosophie. Sie versucht, Wittgensteins “Bildtheorie“ (die Sprache ist ein Bild der Wirklichkeit) auf konkrete Bilder von Desargues, Lobachewski, Beltrami, Klein oder Riemann anzuwenden, indem sie die Form, die zu den konkreten geometrischen Bildern gehört, beschreibt. Auf diese Weise erwuchs eine neue Methode der semantischen Interpretation geometrischer Bilder. Doch der Forschungsansatz geht noch weiter, er will die Methode auf weitere Gebiete außerhalb der Geometrie anwenden, zunächst auf die Malerei.

Gemälde lassen neben ästhetischen und symbolischen Deutungen auch eine epistemologische Analyse zu. Dabei stellte sich heraus, dass der illusionistische Barock (zum Beispiel Andrea Pozzo) dieselbe Form der Abbildung verwendete wie die Entdecker der nichteuklidischen Geometrie. Sicher wussten die Maler nichts von nichteuklidischer Geometrie, und doch verwendeten sie dieselben Ausdrucksformen intellektueller Komplexität. Im Laufe der Forschungen stellte sich heraus, dass die Methode auch auf Algebra und klassische Mechanik angewandt werden kann. Man analysierte mathematische Formeln und deutete sie als eine symbolische Sprache, der mit Hilfe der Bildtheorie eine Bedeutung zukommt. Ein Ergebnis dieser Forschung ist, dass der Mathematiker und Astronom Joseph Louis de Lagrange in seiner Mechanik bereits eine Form der Abbildung verwendete, die den euklidischen Raum verließ - mehrere Jahrzehnte bevor die Geometrie die nichteuklidische Darstellung entdeckte. Nach Ansicht der Forscher verdient Lagrange daher eine größere Aufmerksamkeit von Seiten der Philosophie als bisher. Die Analysen zeigen eine tiefe Verwandtschaft zwischen der nichteuklidischen Geometrie, der lagrangischen Mechanik, der illusionistischen barocken Malerei und der Galois-Theorie der Algebra durch eine gemeinsame Form der Abbildung: die interpretative Form, die eine Distanz zur Wirklichkeit einführt.

Dr. Ladislav Kvasz,
Dozent an der Comenius Universität Bratislava,
Humboldtstipendiat am Institut für Philosophie,
Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und
Technikgeschichte der TU Berlin


Leserbriefe

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