TU intern - Januar 2002 - Aktuelles

Nachgefragt

Wie praktisch ist unsere Lehrerausbildung?

“,Unterricht anschauen‘ ohne theoriebasierte Vorbereitung und Reflexion bringt wenig mehr als die eigene Schulvergangenheit.“
Karl-Heiz Arnold

Die Ergebnisse der als PISA-Studie bekannten OECD-Erhebung unter der internationalen Schülerschaft brachten für Deutschland ein erschreckendes Ergebnis. Speziell die Lesefähigkeit unserer Kinder lässt zu wünschen übrig, schlimmer noch: Sie ist unterdurchschnittlich. Für die Universitäten stellt sich die Frage, ob die Lehrer und Lehrerinnen unzureichend ausgebildet sind. TU intern befragte Prof. Dr. Karl-Heinz Arnold vom Institut für Erziehungswissenschaft. Er leitet das Fachgebiet Pädagogische Psychologie, das sich mit der Optimierung pädagogischer Prozesse beschäftigt.

Herr Professor Arnold, Sie waren als Projektkoordinator des Landes Bremen an der PISA-Studie beteiligt. Wie repräsentativ ist die Studie tatsächlich für die deutsche Schülerschaft?

Die PISA-Studie ist in Deutschland als Doppeluntersuchung realisiert worden. Derzeit werden die Ergebnisse von PISA-International debattiert. In jedem der 32 Teilnehmerstaaten ist eine Zufallsstichprobe von rund 150 bis 200 Schulen gezogen worden, die das Gesamtschulsystem hinreichend repräsentieren.

Für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, die ein föderal administriertes Schulsystem haben, muss diese Stichprobe in angemessener Weise geschichtet werden - ein nicht einfach zu lösendes Problem. Kleine Bundesländer nehmen deshalb “nur“ mit wenigen Schulen teil, was den Eindruck geringer Repräsentativität hervorbringen mag. Fachlich ist die Strategie jedoch korrekt, da die Schulen strikt zufällig gezogen wurden. - PISA-E, die von der KMK in Auftrag gegebene Erweiterung der deutschen PISA-Studie zum Leistungsvergleich zwischen den 16 Bundesländern (Ergebnisveröffentlichung für Herbst 2002 geplant), korrigiert dieses Phänomen: In jedem Land wurden pro Schulform mindestens 25 Schulen zufällig gezogen.

Die Schulen bemängeln, dass Referendare meist ungenügend vorbereitet auf den Schulalltag von den Universitäten kommen. Welche Rolle spielt der Praxisbezug in der heutigen Lehrerausbildung?

Niemand bestreitet ernsthaft, dass der Praxisbezug erforderlich ist. Die entscheidende Frage ist aber, welche Anteile Fachwissenschaften, Fachdidaktik, Pädagogik sowie Psychologie an der Ausbildung haben sollen und wie sie verbunden werden. Eine extensive Praxisorientierung kann nicht das Ziel sein. Dafür können wir nicht die Voraussetzungen bieten: Weder gibt es in unseren Schulen ausreichend exzellente Praxis, die den Studierenden modellhaft gezeigt werden kann, noch haben wir an den Universitäten und in den Schulen das Personal für eine betreuungsintensive Praxisausbildung. “Unterricht anschauen“ ohne theoriebasierte Vorbereitung und Reflexion bringt wenig mehr als die eigene Schulvergangenheit.

Gibt es Ansätze, die das Problem bereits berücksichtigen?

Die “Perspektiven der Lehrerbildung“ der KMK-Kommission aus dem Jahr 2000 empfehlen Sinnvolles: Orientierung an Kernkompetenzen und einem modernen Lehrerleitbild, Kerncurriculum Erziehungswissenschaft sowie Aufwertung der Lehrerbildung innerhalb der Universitäten.

Können die Universitäten in der Lehrerbildung auch auf Bewährtes aus dem Ausland zurückgreifen?

Wir wissen wenig darüber, welche Importe effektiv sind. Im eigenen Land haben wir jedoch einige wenige Beispiele exzellenter Praxisorientierung, die auch im Ausland als effektiv gelten. In Bielefeld betreibt die Universität eine Versuchsschule, in der Unterrichtspraxis, Unterrichtsforschung und Lehrerbildung direkt verknüpft sind. Zumindest sollten den Universitäten besonders ausgestattete Modellschulen zugeordnet werden.

Das Gespräch führte Patricia Pätzold

So soll es weitergehen

Die zwölf Empfehlungen des Forums Bildung, das Bildungssystem in Deutschland zu verändern

  1. Frühe Förderung schon in Kindergarten und Grundschule, Aus- und Weiterbildung des Erziehungspersonals, frühe Sprachförderung der Kleinen.
  2. Individuelle Förderung auf dem Weg zu mehr Ganztagsschulen, Finden und Fördern von Begabungen, Abbau von Benachteiligungen, kompetentes Personal für kreative praktische und soziale Arbeit.
  3. Lebenslanges Lernen vom Kindergarten an: Weiterbildung, neue Formen der Anerkennung, Einbeziehung älterer Arbeitnehmer.
  4. Verantwortung übernehmen. Neben reiner Wissensvermittlung soll mehr Kompetenz zum demokratischen Handeln treten, die so genannte Wertevermittlung.
  5. Mehr Wertschätzung für den Pädagogenberuf. Dafür muss die Motivation der Lehrenden durch stärkere Betonung der Didaktik im Studium gesteigert werden.
  6. Gleichberechtigung als Leitprinzip. Mädchen sind heute schulisch erfolgreicher als Jungen. Sie müssen in Naturwissenschaft und Technik stärker gefördert werden, Jungen dagegen in ihrer Sozialkompetenz.
  7. Mehr Ausbildung gut qualifizierter Kräfte durch größere Durchlässigkeit der Bildungsformen, mehr Berufsintegration im Studium, Anerkennung beruflicher Leistungen von Nicht-Abiturienten bei der Hochschulzulassung.
  8. Neue Medien nutzen, Internet-Anschlüsse in jedem Klassenzimmer, Medien-Weiterbildung für das Bildungspersonal.
  9. Ausgrenzung vermeiden, spezielle Weiterbildungsangebote für Schulabbrecher.
  10. Migranten und Migrantinnen: Spezielle Bildung und Qualifizierung sollen das Bildungspotenzial junger Ausländer erschließen.
  11. Lernorte öffnen: Alle Bildungseinrichtungen sollen “Häuser des Lernens“ werden und ihre Nachbarschaft einbeziehen: Eltern, Jugend, Wirtschaftsunternehmen.
  12. Eigenverantwortung der Bildungsseinrichtungen durch Evaluation. Interne und externe Qualitätskontrollen sollen zu Beratung statt Bevormundung führen.
tui

Leserbriefe

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