Westliches Artefakt
Als die Chinesen das Radfahren lernten
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Die Technik
des Fahrradfahrens in der Bildkunst |
Das Fahrrad gehört - ebenso wie beispielsweise die Haushaltsnähmaschine
- zweifellos in die Gruppe jener "unauffälligen"
industriellen Gegenstände, deren Bedeutung für das Haushalts-
und Alltagsleben um die Wende zum 20. Jahrhundert sich erst auf
den zweiten Blick offenbart. Mit der breiten Nutzung dieser "Maschinen"
erweiterten sich die Handlungs-, Produktions- und im Fall des Fahrrads
die Kommunikationsspielräume vor allem der großstädtischen
Bevölkerung. Sie trugen damit in je eigener Weise zur kulturellen
und wirtschaftlichen Moderne bei. Während solche Zusammenhänge
für die westliche Hemisphäre - auch für das Fahrrad
- mittlerweile reges wissenschaftliches Interesse finden und sich
in zahlreichen Publikationen niederschlagen, bleibt China ein stark
unterrepräsentiertes Feld in der Geschichte der Alltagstechniken.
Unsere Kenntnisse zu allen Aspekten des Fahrrads in China sind spärlich
oder ungesichert.
Das Dissertationsprojekt "Die Aneignung des Radfahrens in
China um die Jahrhundertwende" widmet sich den Jahren 1880
bis 1920, einem Zeitraum, in dem das Radfahren in China noch weitestgehend
als eine "fremde", westliche Modernität und Urbanität
ausdrückende Technik der Fortbewegung aufgefasst wurde. Chinesischsprachige
Quellen, vor allem Zeitschriftenbeiträge über das Verkehrsgeschehen,
über soziale und medizinisch-körperliche Aspekte des Radfahrens
stellen das wichtigste Forschungsmaterial. Darüber hinaus werden
chinesische Archivalien zur Verkehrs- und Unternehmensgeschichte
erschlossen.
Mit dem Forschungsvorhaben werden erstmals zentrale Aspekte der
kulturellen Aneignung des Fahrrads und Radfahrens in China untersucht,
die auf Parallelen, aber auch Unterschiede zur Entwicklung in Westeuropa,
in den USA und im asiatischen Nachbarland Japan überprüft
werden können.
Zunächst werden die Etappen nachgezeichnet, entlang deren
sich das Fahrrad vom Freizeit- und Prestigeobjekt einiger weniger
zum alltäglichen Verkehrsmittel entwickelte. Aus kulturgeschichtlicher
Perspektive wird auf dieser Grundlage die Frage verfolgt, auf welche
Anknüpfungspunkte oder Anfangswiderstände das Fahrrad
speziell in der chinesischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts
traf. Es geht dabei zum einen um die kulturspezifischen Hindernisse
(in der Bewegungs- und Mobilitätskultur, im öffentlichen
Freizeitverhalten), gegen die sich das Fahrrad als nicht nur technisch
neues, sondern auch originär westliches Artefakt durchsetzen
musste. Zum anderen muss man das Fahrrad in China als Vehikel der
Modernisierung und der Emanzipation sehen, mit dem schicht- und
geschlechterspezifische Tabus aufgebrochen wurden und das westlich-moderne
Lebensart öffentlich demonstrierte.
Amir Moghaddass Esfehani
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