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Nr. 5, Mai 2003
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Das Leben und der Tod: Entscheidungen in extremen Situationen

Interview mit Professor Günter Abel über die Bedeutung der Philosophie in der Gesellschaft und an der TU Berlin

Günter Abel plädiert für Philosophie schon in der Schule

Herr Professor Abel, vor wenigen Monaten sind Sie zum Präsidenten der "Deutschen Gesellschaft für Philosophie", der Dachorganisation der Philosophie im deutschsprachigen Raum, gewählt worden und seit Beginn des Jahres im Amt. Wozu brauchen wir heute Philosophie?

Die Philosophie behandelt Themen, die in keiner Einzelwissenschaft explizit Gegenstand, für unser Verständnis der Welt und unser Leben aber zentral sind. Denken Sie an Fragen nach: Willensfreiheit, Gerechtigkeit, Natur, Person, Selbstbewusstsein, Erkenntnis, Wahrheit, Rationalität, Leben und Tod. Hinzu treten Fragen, in denen philosophische Probleme der Einzelwissenschaften thematisch werden, zum Beispiel im Blick auf Mathematik, Physik und Psychologie. Fragen wie "Was ist eine Zahl?", "Was ist die Zeit?", "Was ist Bewusstsein?". Philosophen sind Spezialisten für die Klärung von Grundbegriffen, ohne die niemand von uns sein Leben führen könnte. Sie fragen, sie argumentieren, sie klären Gedanken und prüfen Überzeugungen auf ihre Triftigkeit - all dies, um die Welt, andere Personen und uns selbst besser zu verstehen.

Die Aktualität der Philosophie manifestiert sich auch darin, dass solche grundbegrifflichen Klärungen in nahezu allen Themenfeldern, die die Situation unserer Zeit bestimmen, gefordert sind. Denken Sie an die Rede von "Wissensgesellschaft", "Natur und Umwelt", "wissenschaftlich-technologischer Zivilisation", "Gentechnologie", "Lebensbedingungen zukünftiger Generationen", "Ethik medizinischen Fortschritts", "Menschenrechten" und vielem mehr. Philosophisch relevante Probleme liegen gleichsam auf der Straße.

Was zeichnet die Philosophie an der Technischen Universität aus?

Zunächst bieten wir einen grundständigen Studiengang Philosophie an. Darüber hinaus trägt das Institut dem Umstand Rechnung, dass wir an der TU Berlin angesiedelt sind, indem wir die Verbindung zu den anderen Fakultäten, insbesondere zu den Natur- und Technikwissenschaften, suchen und in guter Kooperation mit vielen von ihnen stehen. Das schlägt sich in der Lehre ebenso nieder wie in der Forschung. So gibt es neben den klassischen Teildisziplinen wie Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Handlungstheorie, Ethik und Ästhetik stets Lehrveranstaltungen zur Wissenschafts- und Technikphilosophie, zu Fragen der Kognition, der künstlichen Intelligenz und Ähnlichem. Das Forschungsprofil des Instituts liegt in den Bereichen Wissensforschung, Philosophie der Sprache und des Geistes, Erkenntnistheorie, in historischer Hinsicht in der Geschichte des Rationalismus und in der Gegenwartsphilosophie. Ein fakultätsübergreifendes Forschungsprojekt unter dem Arbeitstitel "Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen" befindet sich im Aufbau. Es wird zwölf Teilprojekte (aus den Bereichen Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Physik, Informatik, Architektur, Literaturforschung, Semiotik, Musikwissenschaft) umfassen und in Kooperation mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Berlin und internationalen Partnern durchgeführt werden.

Welches sind Ihre eigenen Lehr- und Forschungsschwerpunkte?

Die liegen in den Bereichen Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes. Zurzeit beschäftigen mich Fragen der symboltheoretischen Grundlagen von Wissen und des Verhältnisses unterschiedlicher Formen von Wissen - zum Beispiel dem Wissen, das wir in sprachlichen Aussagen artikulieren können, und dem Wissen, das in Bildern, Zeichnungen, Diagrammen oder grafischen Darstellungen verkörpert ist. Da sich alle Wissenschaften, Künste und Handlungen in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen vollziehen und darin zugleich auf Prozesse der Interpretation dieser Zeichen bezogen sind, geht es um eine Analyse der Grundlagen und der disziplinenübergreifenden Zusammenhänge dieser Bereiche.

In welchen Bereichen des öffentlichen Lebens sind Philosophen gefragt und gefordert, wo ist ihr öffentliches Einsatzfeld?

Denken Sie an die heftig geführten Diskussionen um die Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnologie. Philosophie ist da aus meiner Sicht in zwei Hinsichten gefragt. Zum einen wird in allen diesbezüglichen Diskussionen ein Begriff der "Person" vorausgesetzt. Ihn einer grundbegrifflichen Klärung zuzuführen ist wesentlich Aufgabe der Philosophie. Und Vertreter der Philosophie sind ja auch an diesen Diskussionen beteiligt.

Zum anderen zeigen die Debatten um die Grenzen der Embryonenforschung einen wichtigen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungen und öffentlichen Sinn-Interpretationen. Von den Naturwissenschaften erwarten wir kausale Analysen und eine Kausal-Geschichte der entsprechenden Naturprozesse, zum Beispiel eine Beschreibung und Prognose bestimmter biochemischer Abfolgen. Zugleich aber erwarten wir eine Einordnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Theorien und Forschungsprogrammen in den Kontext des Weltbildes unserer Zeit und Kultur, die nicht schon mit der naturwissenschaftlichen Kausal-Geschichte erbracht ist. Die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit kann dann als Frage des Verhältnisses von Kausal-Geschichte und Sinn-Interpretation entfaltet werden.

Und Letzteres ist für die Philosophie eine Aufgabe besonderer Relevanz. Grundsätzlich sind philosophische Kompetenzen im öffentlichen Raum überall dort gefragt, wo Klärung der Sachverhalte und auf Gründe zurückgreifende Argumentation erfordert sind. Dabei geht es um unterschiedliche Typen von Argumentation: um "theoretische" Argumentation, etwa bei der Beantwortung der Frage, wie die Bedeutung in unsere Wörter oder in eine physikalische Notation kommt; oder um "moralische" Argumentation, wie sie in Fragen der Lebensführung und in extremen Situationen, in denen man überaus folgenreiche Entscheidungen zu verantworten hat, geboten ist.

Wenn Philosophie so wichtig sein kann, sollte dann nicht mit der Philosophieausbildung schon früher als in der Universität begonnen werden?

Der Sinn für theoretische und moralische Argumente kann gar nicht früh genug geweckt werden. Übrigens könnte Philosophie hier auch einen Beitrag zur Behebung der durch die "PISA"-Studie aufgedeckten Schwächen im schulischen Ausbildungsbereich leisten.

Die "Deutsche Gesellschaft für Philosophie" ist sehr daran interessiert, Philosophie als Fach noch stärker als bisher in den Schulen zu verankern. Erfreulicherweise wird Philosophie inzwischen auch an vielen Berliner Gymnasien angeboten. Es ist zu hoffen, dass diese positive Entwicklung anhält. An der Universität kann man Philosophie als Magisterstudiengang und für das gymnasiale Lehramt studieren. An der TU Berlin sind darüber hinaus Kombinationen des Magisterfachs Philosophie mit einem Diplomstudiengang durchaus nachgefragt und beliebt. So werden alle Diplomstudiengänge, zum Beispiel Mathematik, Informatik oder Betriebswirtschaft, als zweite Hauptfächer in dem Magisterstudiengang Philosophie anerkannt. Diese Doppelqualifikationen sind auf dem Arbeitsmarkt zunehmend gefragt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Patricia Pätzold

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