Das Leben und der Tod: Entscheidungen in extremen Situationen
Interview mit Professor Günter Abel über die Bedeutung
der Philosophie in der Gesellschaft und an der TU Berlin
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Günter Abel plädiert
für Philosophie schon in der Schule |
Herr Professor Abel, vor wenigen Monaten sind Sie zum Präsidenten
der "Deutschen
Gesellschaft für Philosophie", der Dachorganisation
der Philosophie im deutschsprachigen Raum, gewählt worden und
seit Beginn des Jahres im Amt. Wozu brauchen wir heute Philosophie?
Die Philosophie behandelt Themen, die in keiner Einzelwissenschaft
explizit Gegenstand, für unser Verständnis der Welt und
unser Leben aber zentral sind. Denken Sie an Fragen nach: Willensfreiheit,
Gerechtigkeit, Natur, Person, Selbstbewusstsein, Erkenntnis, Wahrheit,
Rationalität, Leben und Tod. Hinzu treten Fragen, in denen
philosophische Probleme der Einzelwissenschaften thematisch werden,
zum Beispiel im Blick auf Mathematik, Physik und Psychologie. Fragen
wie "Was ist eine Zahl?", "Was ist die Zeit?",
"Was ist Bewusstsein?". Philosophen sind Spezialisten
für die Klärung von Grundbegriffen, ohne die niemand von
uns sein Leben führen könnte. Sie fragen, sie argumentieren,
sie klären Gedanken und prüfen Überzeugungen auf
ihre Triftigkeit - all dies, um die Welt, andere Personen und uns
selbst besser zu verstehen.
Die Aktualität der Philosophie manifestiert sich auch darin,
dass solche grundbegrifflichen Klärungen in nahezu allen Themenfeldern,
die die Situation unserer Zeit bestimmen, gefordert sind. Denken
Sie an die Rede von "Wissensgesellschaft", "Natur
und Umwelt", "wissenschaftlich-technologischer Zivilisation",
"Gentechnologie", "Lebensbedingungen zukünftiger
Generationen", "Ethik medizinischen Fortschritts",
"Menschenrechten" und vielem mehr. Philosophisch relevante
Probleme liegen gleichsam auf der Straße.
Was zeichnet die Philosophie an der Technischen Universität
aus?
Zunächst bieten wir einen grundständigen Studiengang
Philosophie an. Darüber hinaus trägt das Institut dem
Umstand Rechnung, dass wir an der TU Berlin angesiedelt sind, indem
wir die Verbindung zu den anderen Fakultäten, insbesondere
zu den Natur- und Technikwissenschaften, suchen und in guter Kooperation
mit vielen von ihnen stehen. Das schlägt sich in der Lehre
ebenso nieder wie in der Forschung. So gibt es neben den klassischen
Teildisziplinen wie Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Philosophie
des Geistes, Handlungstheorie, Ethik und Ästhetik stets Lehrveranstaltungen
zur Wissenschafts- und Technikphilosophie, zu Fragen der Kognition,
der künstlichen Intelligenz und Ähnlichem. Das Forschungsprofil
des Instituts liegt in den Bereichen Wissensforschung, Philosophie
der Sprache und des Geistes, Erkenntnistheorie, in historischer
Hinsicht in der Geschichte des Rationalismus und in der Gegenwartsphilosophie.
Ein fakultätsübergreifendes Forschungsprojekt unter dem
Arbeitstitel "Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen"
befindet sich im Aufbau. Es wird zwölf Teilprojekte (aus den
Bereichen Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Physik, Informatik,
Architektur, Literaturforschung, Semiotik, Musikwissenschaft) umfassen
und in Kooperation mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen
in Berlin und internationalen Partnern durchgeführt werden.
Welches sind Ihre eigenen Lehr- und Forschungsschwerpunkte?
Die liegen in den Bereichen Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie
und Philosophie des Geistes. Zurzeit beschäftigen mich Fragen
der symboltheoretischen Grundlagen von Wissen und des Verhältnisses
unterschiedlicher Formen von Wissen - zum Beispiel dem Wissen, das
wir in sprachlichen Aussagen artikulieren können, und dem Wissen,
das in Bildern, Zeichnungen, Diagrammen oder grafischen Darstellungen
verkörpert ist. Da sich alle Wissenschaften, Künste und
Handlungen in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen vollziehen
und darin zugleich auf Prozesse der Interpretation dieser Zeichen
bezogen sind, geht es um eine Analyse der Grundlagen und der disziplinenübergreifenden
Zusammenhänge dieser Bereiche.
In welchen Bereichen des öffentlichen Lebens sind Philosophen
gefragt und gefordert, wo ist ihr öffentliches Einsatzfeld?
Denken Sie an die heftig geführten Diskussionen um die Möglichkeiten
und Grenzen der Gentechnologie. Philosophie ist da aus meiner Sicht
in zwei Hinsichten gefragt. Zum einen wird in allen diesbezüglichen
Diskussionen ein Begriff der "Person" vorausgesetzt. Ihn
einer grundbegrifflichen Klärung zuzuführen ist wesentlich
Aufgabe der Philosophie. Und Vertreter der Philosophie sind ja auch
an diesen Diskussionen beteiligt.
Zum anderen zeigen die Debatten um die Grenzen der Embryonenforschung
einen wichtigen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungen
und öffentlichen Sinn-Interpretationen. Von den Naturwissenschaften
erwarten wir kausale Analysen und eine Kausal-Geschichte der entsprechenden
Naturprozesse, zum Beispiel eine Beschreibung und Prognose bestimmter
biochemischer Abfolgen. Zugleich aber erwarten wir eine Einordnung
von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Theorien und Forschungsprogrammen
in den Kontext des Weltbildes unserer Zeit und Kultur, die nicht
schon mit der naturwissenschaftlichen Kausal-Geschichte erbracht
ist. Die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit
kann dann als Frage des Verhältnisses von Kausal-Geschichte
und Sinn-Interpretation entfaltet werden.
Und Letzteres ist für die Philosophie eine Aufgabe besonderer
Relevanz. Grundsätzlich sind philosophische Kompetenzen im
öffentlichen Raum überall dort gefragt, wo Klärung
der Sachverhalte und auf Gründe zurückgreifende Argumentation
erfordert sind. Dabei geht es um unterschiedliche Typen von Argumentation:
um "theoretische" Argumentation, etwa bei der Beantwortung
der Frage, wie die Bedeutung in unsere Wörter oder in eine
physikalische Notation kommt; oder um "moralische" Argumentation,
wie sie in Fragen der Lebensführung und in extremen Situationen,
in denen man überaus folgenreiche Entscheidungen zu verantworten
hat, geboten ist.
Wenn Philosophie so wichtig sein kann, sollte dann nicht mit
der Philosophieausbildung schon früher als in der Universität
begonnen werden?
Der Sinn für theoretische und moralische Argumente kann gar
nicht früh genug geweckt werden. Übrigens könnte
Philosophie hier auch einen Beitrag zur Behebung der durch die "PISA"-Studie
aufgedeckten Schwächen im schulischen Ausbildungsbereich leisten.
Die "Deutsche Gesellschaft für Philosophie" ist
sehr daran interessiert, Philosophie als Fach noch stärker
als bisher in den Schulen zu verankern. Erfreulicherweise wird Philosophie
inzwischen auch an vielen Berliner Gymnasien angeboten. Es ist zu
hoffen, dass diese positive Entwicklung anhält. An der Universität
kann man Philosophie als Magisterstudiengang und für das gymnasiale
Lehramt studieren. An der TU Berlin sind darüber hinaus Kombinationen
des Magisterfachs Philosophie mit einem Diplomstudiengang durchaus
nachgefragt und beliebt. So werden alle Diplomstudiengänge,
zum Beispiel Mathematik, Informatik oder Betriebswirtschaft, als
zweite Hauptfächer in dem Magisterstudiengang Philosophie anerkannt.
Diese Doppelqualifikationen sind auf dem Arbeitsmarkt zunehmend
gefragt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Patricia Pätzold
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