Visionen des sozialistischen Alltags
DDR-Stadtentwicklung zwischen großen Entwürfen und
zentralstaatlichen Zwängen
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Industriekulisse des Stahl-
und Walzwerkes Eisenhütten-Kombinat Ost (EKO) in Eisenhüttenstadt |
Als Ludwigsfelde 1965 Stadt wurde, war der Anlass dafür, dass
im VEB IFA-Automobilwerk der erste Lkw vom Band lief. Dieser Zusammenhang
widerspiegelt die Abhängigkeit städtischer Entwicklung
in der DDR von der Industriepolitik der SED. In dem nun abgeschlossenen
Forschungsprojekt "Industriestädte in der SBZ/DDR 1945
bis 1989/90. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und urbanes Leben"
wurden anhand von drei Stadttypen die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen
sowie die Lebensrealitäten in den Industriestädten der
DDR untersucht. Die von der "Arbeitsstelle
für europäische Stadtgeschichte" des Instituts
für Geschichte und Kunstgeschichte der TU Berlin und vom Leibnizinstitut
für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner (IRS)
durchgeführte Forschungsarbeit war von der Volkswagenstiftung
von 2001 bis 2004 finanziert worden.
Zum Abschluss des Projekts veranstalteten Prof. Dr. Heinz Reif
(TU Berlin) und Dr. Christoph Bernhardt (IRS Erkner), unter deren
Leitung das Forschungsvorhaben durchgeführt worden ist, am
6. und 7. Februar in Berlin eine Konferenz "Städte im
Sozialismus", auf der mehr als 20 Wissenschaftler deutscher
und internationaler Forschungseinrichtungen über Stand und
Perspektiven der Forschung sprachen. Diskutiert wurden Themen wie
die Kommunalpolitik zwischen zentralstaatlichen Zwängen und
lokalen Handlungsressourcen, die Stadtplanung zwischen sozialistischen
Visionen und defizitärer Urbanisierung sowie Alltag und Öffentlichkeit
in der sozialistischen Stadtgesellschaft. Gegenstand der Konferenz
war auch der Vergleich von Forschungsergebnissen zu mittel- und
osteuropäischen Städten. TU-Professor Harald Bodenschatz
referierte über die Ergebnisse seines Forschungsprojekts zur
stalinistischen Stadtplanung in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren.
Das Projekt "Industriestädte in der SBZ/DDR" richtete
mit seinen Schwerpunkten "Stadtentwicklung", "Kommunalpolitik"
und "Qualität des urbanen Lebens" den Fokus auf einen
Bereich der DDR-Stadtforschung, der bisher kaum im Mittelpunkt wissenschaftlichen
Interesses stand. Da die SED nach Krieg und Reparationszahlungen
an die Sowjetunion in der DDR neue Industrien aufbauen musste, folgte
die Entwicklung der Städte "vorrangig wirtschaftspolitischen
Zwängen", schreiben Carsten Benke und Thomas Wolfes. Benke
(TU Berlin) untersuchte die Entwicklung der industriellen Kleinstadt
Ludwigsfelde, Wolfes (TU Berlin/IRS Erkner) den Weg Rostocks von
der bürgerlichen Hansestadt zu einer großen sozialistischen
Industriestadt und Philipp Springer (TU Berlin) die industrielle
Mittelstadt Schwedt.
Anhand der drei Fallbeispiele analysierten die Forscher die "Entstehung
der physischen Stadtstrukturen ... als Produkt der Wechselwirkung
zwischen einer zentralistisch geleiteten Politik und der lokalen
Ebene". Über eine "differenzierte und vergleichende
Analyse der Industriestädte werden Leistungen und Blockaden,
Loyalitätsgewinne und -verluste des gesellschaftlichen und
des politischen Systems in der DDR erfasst", heißt es.
Damit habe das Forschungsprojekt Grundlagenwissen über zentrale
Funktionsmechanismen der DDR-Diktatur auf der lokalen Ebene erarbeitet,
trage zur historischen Einordnung und Bewertung sowie zur Etablierung
der Stadtgeschichte innerhalb der DDR-Geschichtsforschung bei und
habe darüber hinaus aktuelle Relevanz. "In Hinblick auf
die Perspektiven nach 1990", schreiben die Wissenschaftler,
"können durch die historische Analyse auch die unterschiedlichen
Entwicklungsoptionen gegenwärtiger Stadtentwicklung in Ostdeutschland
- Deindustrialisierung, Stagnation, Schrumpfung oder Reindustrialisierung
- besser erfasst werden."
sn
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