Das dörfliche Licht
Eine technikethnologische Fallstudie über Nordchina
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In ihrer Jugend
spann diese Chinesin mit ihren Nachbarinnen Garn unter einer
Öllampe. Jetzt erhellt eine 15-Watt-Birne ihr Zimmer |
Als Xiujie Wu im April dieses Jahres aus China nach Berlin zurückkehrte,
fiel ihr etwas besonders auf - überall die blendend hellen
Beleuchtungen. In den vergangenen sechs Wochen hatte sie die Abende
zumeist bei schummrigem Kerzenlicht verbracht und war des Nachts
auf stockfinsteren Dorfwegen gelaufen. Ihre Forschungsarbeit hatte
sie in zwei Dörfer bei Dingzhou in der nordchinesischen Provinz
Hebei geführt. Dort arbeitete sie zu ihrer Dissertation "Ein
Jahrhundert Licht im Alltag. Eine technikethnologische Fallstudie
zur Beleuchtung in Nordchina". Diese Feldforschung fand im
Rahmen des VW-Projekts "Alltagstechniken
Chinas" an der TU Berlin statt, in dem sie als wissenschaftliche
Mitarbeiterin tätig ist.
Vor zwei Jahren hatte sie zunächst noch Ambitionen, einer anderen
zentralen Fragestellung des Alltags nachzugehen, nämlich der
Zeitorientierung und zirkadianen Rhythmik der Chinesen. Im Laufe
der Projektarbeit aber, betreut von der Projektleiterin Privat-Dozentin
Dr. Mareile Flitsch und Prof. Dr. Wolfgang König, empfahl sich
die Beschäftigung mit der Rolle des Lichts im Alltag.
Ohne eine fundierte Forschung zu den menschlichen Schlafgewohnheiten
kann man kaum die zirkadiane Rhythmik einer Gesellschaft erfassen.
In Ethnologie und Anthropologie gibt es bislang weder theoretische
Grundlagen noch empirische Forschungen zu Schlafgewohnheiten, abgesehen
von wenigen Beiträgen wie der Dissertation von Brigitte Steger
zu Schlafgewohnheiten in Japan (s. Buchtipp).
Technikethnologisch gesehen sind Arbeits-Ruhe- und Schlaf-Wach-Rhythmen
Folge der Zeitgestaltung des Alltags. Eine technisch und ökonomisch
günstige Beleuchtung ist für eine freizügige Zeitgestaltung
unverzichtbar. So ist Xiujie Wus Erforschung der Beleuchtung ein
erster Schritt zu weiteren Untersuchungen der Organisation und Gestaltung
von Zeit im Alltag.
Inzwischen führte Xiujie Wu zwei Feldforschungen in "ihren
Dörfern" durch. Interviews mit alten Menschen gaben einen
Überblick über praktische Aspekte der Anwendung diverser
Beleuchtungstechniken. Noch immer sind die Dorfbewohner auf einen
sparsamen, pragmatischen Umgang mit Beleuchtungsmitteln angewiesen.
Viele Gespräche stützen die These, dass bei Neuformierung
und Desintegration sozialer Gemeinschaften die Beleuchtung eine
wesentliche, wenngleich nicht die einzige Rolle spielt. Auch strukturiert
das elektrische Licht die Geschlechterrolle im Alltag um: Durch
den "technischen" Anspruch der Glühbirne ist die
Beleuchtung zwischenzeitlich von einer Frauen- zu einer Männersache
geworden.
Reizvoll wäre für Xiujie Wu eine umfassende Ethnografie
des Alltags in beiden Dörfern, wobei zentrale Techniken wie
die Elektrifizierung, Radio und Fernsehen, Wasserpumpen und so weiter
als roter Faden der Beobachtung dienen könnten. Nur wenn das
Dorfleben als Ganzes betrachtet wird, können die vielen Details
geordnet und plausible Interpretationen abgeleitet werden. Der Sinn
einer solchen Fallstudie läge noch darin, weitere spannende
Fragestellungen zu formulieren, wie: Warum Petroleum als ein ausländisches
Produkt problemlos in den Alltag der Dorfbewohner eindringen konnte,
aber aus Tempeln und Ritualen verbannt blieb?
tui
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