Neues Fenster zum Rest der Welt
Internationaler Semiotik-Kongress in Peking zeigte kulturelle
Unterschiede der Wissenschaftsstile von West und Ost
Nur ein "Dialog auf gleicher Augenhöhe" war geplant,
doch es öffnete sich für beide Seiten ein neues Fenster
zum Rest der Welt. Auf dem Kongress "Semiotics and the Humanities"
in Peking, zu dem die International
Association for Semiotic Studies (IASS) und die chinesische
Akademie für Gesellschaftswissenschaften (CASS) geladen
hatten, finanziell unterstützt von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Hanns-Seidel-Stiftung
(HSS), stellten sich wichtige Vertreter der Philosophie, der historischen
und der kunstbezogenen Wissenschaften in China und im Westen erstmalig
einander vor. Sie wollten klären, was sich in der Forschungspraxis
der wichtigsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen
ändert, wenn man ihre Gegenstände konsequent als Zeichen
und Zeichenprozesse versteht, und was die so neu konzipierten Disziplinen
zum Verständnis eigener und fremder Kulturen beitragen können.
Die Überwindung von kulturellen Barrieren sei eines der Hauptanliegen
der IASS seit ihrer Gründung 1969, darauf wies ihr Präsident,
der TU-Semiotiker Professor Dr. Roland Posner, bei der Eröffnung
hin: Barrieren, die die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen
voneinander trennen und zu Missverständnissen führen:
die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften und beide
von den Gesellschaftswissenschaften; und Barrieren, die die vielen
kulturspezifischen Stile der Wissensaneignung voneinander trennen.
Der Mensch, so führte ein chinesischer Kongressteilnehmer
aus, wurde sowohl im Konfuzianismus als auch im Taoismus bereits
als "symbolic animal" verstanden. Kulturspezifische Symbole
verliehen auch jeder Gesellschaft eine eigene Identität. Die
neuen Wirtschaftsformen im heutigen China hätten allerdings
zu beträchtlichen Veränderungen der symbolischen Formen
geführt, und das sei ein zukunftsträchtiger Untersuchungsgegenstand
für die Kulturwissenschaften. Im Westen, so erklärte Roland
Posner, habe die Geschichte der Geisteswissenschaften in engem Zusammenhang
mit der Entwicklung der Zeichenprozesse gestanden: von der Spaltung
der natürlichen Kommunikationssituation durch die Einführung
des Schreibens und Lesens im vorklassischen Griechenland über
die Kommunikation mit multiplen Adressaten durch die Redner auf
dem Forum Romanum, die Verdoppelung und Verschmelzung zweier Kommunikationsvorgänge
bei der Übersetzung der Heiligen Schriften im Mittelalter und
weitere Vorgänge bis hin zu dem modernen Versuch, ganze Kulturen
als Systeme von Zeichen zu verstehen und wissenschaftlich zu vergleichen.
In den übrigen Vorträgen wurde auf die reiche Wissenschaftstradition
Chinas im Bereich von Mathematik, Medizin, Geografie, Architektur,
Theater und Mythologie eingegangen und geprüft, wie sich diese
Auffassungen mit denen des Westens verbinden lassen.
Aufgrund der Erfahrungen dieses Kongresses will China nun eine
allchinesische Semiotik-Gesellschaft gründen, und die Chinesische
Akademie für Gesellschaftswissenschaften erhält ein Institut
für Semiotik. Die chinesischen Semiotiker wollen von der Erfahrung
des Westens profitieren und vergangene Fehler der Entwicklung der
westlichen Semiotik vermeiden. Insbesondere war man sich einig,
durch Sommerschulen und Ferienuniversitäten den Austausch weiter
zu fördern. Die Vorträge und Diskussionen werden vollständig
demnächst sowohl auf Chinesisch als auch auf Englisch veröffentlicht.
Die Semiotik, das war das Fazit der Veranstaltung, setze sich deshalb
weltweit durch, weil sie für die Selbstreflexion des Menschen
in den Wissenschaften und für die Analyse des Alltags gleichermaßen
nützlich sei.
tui
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