Richtung Norden und immer geradeaus
Studierende bringen Hilfsgüter in abgeschiedene russische Gebiete am nördlichen Polarkreis
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Kilometer um Kilometer kämpft sich der schwer beladene Lastwagen-Konvoi über unbefestigte Straßen nach Sibirien durch
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Vor der sinkenden Sonne ziehen Rentierherden immer weiter nach Norden, dorthin, wo die Sonne im Sommer niemals untergeht. Auf langen, einsamen Asphaltstraßen und kilometerlangen sandigen Schotterpisten, vorbei an unberührter Natur, folgt ihnen vier Tage lang ein Konvoi aus fünf voll beladenen 40-Tonnern und drei Kleinbussen durch Schweden und Finnland in die menschenleere russische Tundra. 20 Berliner Studierende bringen über 3000 Kilometer weit Hilfsgüter ins russische Murmansk, größte Stadt nördlich des Polarkreises.
"Es ist ein gutes Gefühl, ein kleines Stück der Not der Welt zu lindern, und wir können sicher sein, dass 100 Prozent der gespendeten Güter auch wirklich an ihrem Bestimmungsort landen", beschreibt der 26-jährige TU-Student Georg Becker-Birck, warum die Studierenden sich den Strapazen einer solchen Reise unterziehen, ohne selbst einen Cent dafür zu sehen.
2002 wurde das Projekt "Murmansk-Hilfe" mit Unterstützung des Vereins O. S. T. e.V. ins Leben gerufen. Die Abkürzung steht für "Organisation, Sammlung, Transport". Seitdem organisieren sie jedes Jahr ehrenamtlich einen Hilfstransport für Kinder- und Behindertenheime, Krankenhäuser und Sozialstationen in der Region Murmansk. Mehr als 110 Tonnen Hilfsgüter von rund 200 Spendern im Gesamtwert von über einer Million Euro haben sie bereits in die abgelegene Gegend gebracht, die durch den Untergang des U-Bootes "Kursk" traurige Berühmtheit erlangte.
"In der Region Murmansk ist die soziale Situation besonders dramatisch", erzählt Georg Becker-Birck, der Russland durch mehrere Praktika und ein Auslandssemester bereits gut kennt. "Zum Nachbarn Finnland gibt es das größte Wohlstandsgefälle der Welt. Internationale Hilfsorganisationen verirren sich kaum in diese Abgeschiedenheit." Die Heime und Krankenhäuser seien finanziell chronisch unterversorgt und extrem schlecht ausgestattet. Wer es schaffe, ziehe weg, und diejenigen, die blieben, litten unter den wachsenden Missständen. "Im bitterkalten Winter kommt es vor, dass der Frost die Wasserleitungen sprengt, sodass ganze Häuserviertel ohne Heizung sind. Erfrierungstode sind dann keine Seltenheit."
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Gruppenbild mit Matratzen: studentische Vereinsmitglieder in ihrem Lagerraum
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Doch das Team der diesjährigen Tour aus acht TU-Studierenden des Wirtschaftsingenieurwesens, zwei Juristen, drei Betriebswirten, zwei Medizinern und fünf Geisteswissenschaftlern der anderen Berliner Universitäten lässt sich keineswegs nur von Gefühlen leiten. Die Studierenden legen großen Wert auf professionelle Organisation. "Gerade die Zusammensetzung des Teams aus unterschiedlichen Fachrichtungen macht das Projekt so erfolgreich", erklärt Studentin Désirée Wöhler, die sich unter anderem um Pressearbeit kümmert, und Johanna Neuschäffer, die Kunstgeschichte und Volkswirtschaft studiert, ergänzt: "Wir verteilen die Aufgaben so, dass jeder seine speziellen Kenntnisse einbringen kann." Sie selbst ist für die Pflege der Homepage im Projekt zuständig. "So können wir nicht nur die Theorie aus dem Studium umsetzen, sondern auch ganz schön viel über uns selbst lernen, über Teamfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und darüber, wie man unerwartete Probleme meistert."
Und Probleme gibt es reichlich bei so einem Vorhaben: Sowohl bei Finanzierung, Logistik und Zollabfertigung, Spendenakquise, Organisation von Benefizveranstaltungen und PR-Arbeit als auch unterwegs. Zum Glück sprechen vier Leute aus dem Team gut Russisch. "Kippt die Stimmung an der Grenze, kommen auch die zwischenmenschlichen Kompetenzen zum Einsatz", erzählt Wolf Thyssen, ebenfalls TU-Wirtschaftsingenieurstudent. "Da hat es schon mal geholfen, als Jana, eine Kommilitonin, bei einem kleinen Plausch mit dem Zollbeamten feststellte, dass ihre Mutter zufällig in der gleichen Gegend aufgewachsen ist wie der Kontrolleur."
Am 18. Mai startet der nächste Konvoi, die Murmansk-Tour 2007. Das wichtigste Etappenziel ist das "Hotel zum 69. Breitengrad" in Murmansk, wo es für die erschöpften Helfer nach mehreren Tagen Brotmahlzeiten nun nach russischer Tradition Borschtsch und Blinis gibt. Am nächsten Morgen geht es an die Verteilung. Stolz sind die Ärzte und Krankenschwestern, wenn sie die im Jahr zuvor gebrachten Betten, Matratzen und neuen Rollstühle vorführen können, die ihr knappes Krankenhausbudget meist nicht hergibt. In diesem Jahr sind die Spenden unter anderem für einige Provinzkrankenhäuser, das Kinderinfektionskrankenhaus in Murmansk und eine Internatsschule für lernbehinderte Kinder in Kildinstroj. In diesem Jahr will das Team während des Aufenthalts zusätzlich einige medizinische Geräte kaufen, die in den Krankenhäusern dringend gebraucht werden, darunter Beatmungs- und Ultraschallgeräte sowie Überwachungsmonitore.
"Neue Mitstreiter und natürlich Spenden, besonders Geld zum Kauf der medizinischen Geräte, können wir jederzeit gebrauchen", erklärt schließlich Georg Becker-Birck, und nicht ohne Stolz fügt er hinzu: "Immerhin unterstützt sogar der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seit einigen Jahren unser Engagement."
Patricia Pätzold
www.murmansk-hilfe.org
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