l h a D h c i r l U © Seite 4 FORSCHUNG – Corona und soziale Auswirkungen TU intern · Nr. 3/Juni 2020 LEHREN AUS DER PANDEMIE Abkehr von einer geltenden Praxis Reinhard Busse Als eine der wichtigsten Schluss- folgerungen aus der Corona-Pan- demie fordert Prof. Dr. Reinhard Busse eine strikte Abkehr von der bislang in Deutschland geltenden Praxis, dass jedes Krankenhaus selbst festlegt, welche Leistungen es erbringt. „Wir sollten diese Pra- xis nicht fortführen“, sagt Reinhard Busse, Leiter das Fachgebiets Ma- nagement im Gesundheitswesen. Notwendig sei vielmehr eine lan- desweite Krankenhausplanung, aus der das Aufgaben- und Leistungs- spektrum jedes einzelnen Kran- kenhauses hervorgeht – aufgrund seiner strukturellen, personellen und technischen Ausstattung und E r f a h r u n g . Es sei nicht sinnvoll, so der Gesund- heitsökonom, dass jedes Krankenhaus k o m p l e x e Krebsoperati- onen vorneh- me, also alle Kliniken alles ma- chen würden. „Und wenn es nicht jedem Krankenhaus bislang selbst überlassen gewesen wäre, welche Leistung es anbietet, dann wäre es zu dem Desaster fehlender Schutz- kleidung in der Corona-Krise in diesem Ausmaß auch nicht gekom- men, weil ein Vorrat Voraussetzung zur Behandlung infektiöser Patien- ten gewesen wäre“, so Busse. „Die Corona-Krise hat Schwächen des Krankenhaussystems sichtbar ge- macht.“ Eine sei das Vergütungs- system in den Kliniken. Während der Corona-Pandemie bekamen Kliniken auch für leere Betten Geld, wenn sie diese als Reserve vorhielten. Bislang aber sind solche expliziten Reserven in deutschen Krankenhäusern nicht vorgesehen. „Wir sollten darüber nachdenken, solche Reserven dauerhaft zu fi- nanzieren, und uns der Debatte stellen, ob es richtig ist, Kranken- häuser immer nur dafür zu bezah- len, dass sie etwas tun, und dass ein leeres Bett kein Geld bringt. Neben der Einführung einer landeswei- ten Krankenhausplanung müssen wir auch unser Vergütungssystem überdenken – als Lehren aus der Corona-Pandemie“, sagt Reinhard Busse. Sybille Nitsche Wissenschaftsgeschichte Pestarztmaske, COVID-19 und Seuchengeschichte pp Gegenwärtige Gesellschaften wähnten sich, so die soziologische Wis- senschaft, vor Corona bereits im „Zeital- ter der Immunität“, doch diese Gewiss- heit habe nun durch COVID-19 Risse bekommen. „In dem Bewusstsein, selbst inmitten eines Pandemiegeschehens his- torischen Ausmaßes zu stehen, erhält die medizin- und wissenschaftsgeschichtli- che Forschung über Epi- und Pandemien derzeit kräftigen Aufwind; ebenso sozi- al- und kulturwissenschaftliche Analysen von Krisen und Katastrophen“, heißt es im Editorial des „COVID-19 Special“ der „NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin“, die von Prof. Dr. Heike Weber, Technik- historikerin der TU Berlin, zusammen mit Kolleg*innen aus Erfurt, Heidelberg und Mainz herausgegeben wird. Unter ande- rem ist darin über „Pandemie- und Seu- chengeschichte als Pflegegeschichte“ zu lesen, über die „Vergesellschaftung unter Ansteckenden“, über die „,histori- sche Studie‘ SOLIDARITY als Antwort der Forschung auf die Sars-CoV-2 Pandemie“ über COVID-19 im Spiegel der sozialwis- senschaftlichen Katastrophenforschung sowie über ein medizinhistorisches Fund- stück: die Pestarztmaske von Ingolstadt. https://doi.org/10.1007/s00048-020- 00251-x Das immunologische Gedächtnis Gemeinsames Projekt der Charité und der TU Berlin untersucht, warum manche Menschen weniger schwer an COVID-19 erkranken – Proband*innen gesucht Warum erkranken einige Men- schen sehr schwer an dem Virus SARS-CoV-2, während andere gar keine oder nur sehr milde Symptome zeigen? Diese Frage beschäftigt aktuell viele Wis sen- schaft ler*in nen, darunter auch Prof. Dr. Roland Lauster, Leiter des Fachgebiets Medizinische Biotechnologie an der TU Berlin, sowie Prof. Dr. Andreas Thiel von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Beide zusammen initiier- ten und leiten das Kooperations- projekt Si-M, den gemeinsamen Bio- und Medizintechnologie- Campus beider Institutionen. Vorstudien zu der Frage, warum manche Menschen nur sehr we- nige oder gar keine Symptome zeigen, verliefen so erfolgreich, dass das Bundesministerium für Gesundheit sich kurzfristig ent- schlossen hat, Studien zu för- dern, in denen exakt dieser Frage auf den Grund gegangen wird. Das Virus SARS-CoV-2 war dem Immunsystem der meisten Menschen bisher unbekannt – doch, so vermuten Wissenschaftler*innen, einige „kennen“ ähnliche Viren und könnten so effizienter reagieren in dem Blut von Menschen, die nachweislich kein COVID-19 hatten, Zellen finden, die spe- zifisch mit Proteinen des SARS- CoV-2-Virus kreuzreagieren. „Diese Hinweise sind zwar noch kein Beweis für unsere Hypothese. Aber sie verpflich- ten uns geradezu, jetzt große Studien zu starten“, so Andre- as Thiel. „Wir wollen zum einen feststellen, ob die Existenz von kreuzreagierenden Immunzel- len gegen SARS-CoV-2 den glimpflichen Verlauf der Er- krankung erklären kann. Zum anderen möchten wir einen Überblick darüber bekommen, wie der Immunstatus der Bevöl- kerung gegenüber der Corona- Virenfamilie ist. Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, dass fein abgestimmte vorbeugende Maßnahmen und Screenings für Risikogruppen entwickelt wer- den können“, ergänzt Roland Lauster. Katharina Jung y a b a x p i © Eine Hypothese: Coronaviren beglei- ten die Menschheit seit vielen Jahren. Die Virusfamilie ist verantwortlich für einen Teil der üblichen Winter-Erkäl- tungen mit meistens milden Verläufen. Das Immunsystem von vielen Men- schen ist daher mit dieser Virusfamilie vertraut und besitzt anscheinend zu- mindest eine Art Teil-Immunität gegen diese Viren. Das Virus SARS-CoV-2 ist eine unrühmliche Ausnahme innerhalb dieser Virusfamilie: Es war dem Im- munsystem bisher unbekannt, ist dar- über hinaus hochinfektiös und kann potenziell schwere Krankheitsverläufe auslösen. Bei einer Virusinfektion mit einem Erreger reagiert das Immunsystem auf bestimmte Proteine oder Struktu- ren dieses Erregers, und es wird eine Kaskade von Reaktionen ausgelöst. Handelt es sich um einen unbekann- ten Erreger, ist die Reaktion langsam. Es wird aber im Allgemeinen ein so- genanntes immunologisches Gedächt- nis generiert, sodass der Erreger bei einem erneuten Kontakt viel schnel- ler und effizienter bekämpft werden kann. Bei eng verwandten Krank- heitserregern – zum Beispiel Viren aus einer Familie – kann es vorkommen, dass das Immunsystem auch auf Struk- turen eines eigentlich unbekannten Erregers schnell und effizient reagiert, weil die Strukturen dieser Viren sich nur geringfügig unterscheiden. Man spricht auch von einer sogenannten Kreuzreaktivität. „Kann die unterschiedliche Reaktion auf das neue Coronavirus vielleicht damit zusammenhängen, dass das Im- munsystem der Menschen, die schon öfter Kontakt zu den harmlosen Fami- lienmitgliedern der Coronaviren hat- ten, ‚vorgewarnt‘ ist? Also bereits über einige Immunzellen verfügt, die dann eine schnelle und effiziente Reaktion gegen das neue Virus einleiten? Das wäre zumindest eine Möglichkeit, die milden oder asymptotischen Verläufe zu erklären“, so Roland Lauster. In einer ersten Studie, die als Preprint veröffentlicht wurde, konnten die Forscher*innen nachweisen, dass sich https://doi.org/10.1101/2020.04.17.20061440 Proband*innen gesucht! Für die Studie suchen die Wissenschaftler*innen aktuell COVID- 19-Genesene, die bereit sind, eine Blutprobe abzugeben. Falls Sie zu der Gruppe der nachweis- lich (schriftlich) COVID-19-Genesenen gehören und Interesse haben, bei der Studie mitzuwirken, freuen sich die Forscher*innen über einen Anruf oder eine E-Mail! Sie erreichen die Studien- ärztin telefonisch montags bis freitags zwischen 10 und 17 Uhr. T 314-279 12 studie@si-m.org Internet und Gemeinwohl Demokratie im Netz und Wirtschaft ohne Wachstum „Die Herausforderungen der Corona- Krise sollten uns auch anregen, über unsere wachstumsfixierte Wirtschaft nachzudenken“, sagt Prof. Dr. Tilman Santarius, TU-Professor am Einstein Center Digital Future und Leiter der Forschungsgruppe „Digitalisie- rung und sozial-ökologische Trans- formation“. Die inter- und transdis- ziplinär zusammengesetzte Gruppe untersucht Gestaltungsoptionen für Wirtschaft, Digitalisierung und Nach- haltigkeit und bereitet sie für die öffentliche und die politische Dis- kussion auf. Durch die Corona-Krise besonders aktuell ist die Frage: Kann eine Volkswirtschaft nicht auch auf einer niedrigeren Produktionsebene und ohne Wachstum stabil und funk- tionsfähig sein? Wie muss der Staat als existenzsichernde und umverteilen- de Instanz eingreifen, um ein neues wirtschaftliches und gesellschaftli- ches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau zu etablieren? Die Idee der „kurzen Vollzeit“ Dabei sei nicht nur an die Einfüh- rung eines konjunkturunabhängigen Grundeinkommens, auch für Klein- unternehmer und Selbstständige, zu denken, so Santarius, sondern eben- falls an eine allgemeine Arbeitszeit- verkürzung, eine Reduktion der ge- samtwirtschaftlichen Arbeitsmenge, also eine „kurze Vollzeit“. Denn um die sozioökonomischen Pandemie- Folgen zu bewältigen und dabei die Chance zu nutzen, die derzeitige konjunktur- und wachstumsabhängi- ge Wirtschaft zu einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und krisen- festen Wirtschaft zu transformieren, sei es wirtschaftspolitisch erforder- lich, über das neoklassische und das keynesianische Denken hinauszu- wachsen. Künstliche Intelligenz und die Asymmetrie der Macht Eine wichtige Funktion kommt da- bei nach Ansicht des Volkswirts und Soziologen Santarius der Digitalisie- rung und der Künstlichen Intelligenz (KI) zu. Deren Entwicklung ist der- zeit sehr energieintensiv, zum Bei- spiel durch das Trainieren neuronaler Netze für Sprach- oder Gesichtser- kennung, Suchmaschinen, selbstfah- rende Autos und Chatbots. „Dazu kommt, dass bislang vor allem große Tech-Konzerne die KI gestalten. Sie nutzen sie, um einerseits in Marketing und Werbung Konsum-Anreize zu setzen, und andererseits, um die gro- ßen Mengen an Informationen über die Nutzenden für das Trainieren neu- er KIs zu gewinnen. Damit entstehen gewaltige Machtasymmetrien zuun- gunsten der Nutzenden“, so Santa- rius. „Eine Möglichkeit, KI und Di- gitalisierung zu demokratisieren und breiterem gesellschaftlichen Nutzen zu öffnen, wäre die grenzüberschrei- tende einheitliche Besteuerung der multinationalen Unternehmen. Das wird aber leider international noch kaum diskutiert.“ Am 15. Juni 2020 wird das 4. Forum „Bits & Bäume“, die fortlaufende Gesprächsreihe des Teams von Santarius, stattfinden. Es wird sich diesen Fragen intensiv wid- men und diskutieren, wie Politik ein gemeinwohlorientiertes, ressourcen- schonendes Internet fördern kann. Patricia Pätzold www.transformation.tu-berlin.de https://bits-und-baeume.org/forum/de Die junge Generation trägt die Folgekosten der Pandemie Lockerungen und Förderungen sind jetzt geboten Die Corona-Pandemie hinterlässt ihre Spuren in allen Bereichen der Volkswirtschaft. Ganz besonders deutlich werden diese bei den Kin- dern und Jugendlichen ausfallen – davon ist Prof. Dr. Dorothea Kübler, Leiterin des Fachgebiets Experimen- telle Wirtschaftsforschung an der TU Berlin und der Abteilung Verhalten auf Märkten des Wissenschaftszen- trums Berlin für Sozialforschung, überzeugt. „Die lange Schließung von Schulen, Kitas und Universitäten öffnet die soziale Schere sehr weit“, so die Wissenschaftlerin, die unter anderem Entscheidungsverhalten, Marktdesign oder auch Generatio- nengerechtigkeit erforscht. Forschun- gen aus den USA zeigen, dass die dort üblichen sehr langen Sommer- ferien Kinder aus sozial schwachen Familien deutlich benachteiligen und schulisch zurückwerfen. Während Kinder aus Akademikerfamilien, die in dieser Zeit Sport-Camps oder pri- vat finanzierte Kurse besuchen kön- nen, von den Sommerferien profitie- ren. „Volkswirtschaftlich betrachtet geht uns mit den Schulschließungen auch Wirtschaftswachstum in Form von zukünftigem Einkommen ver- loren. Schätzungen besagen, dass ein verlorenes Schuljahr ab dem Be- rufseintritt sieben bis zehn Prozent weniger Einkommen pro Jahr für das einzelne Kind bedeutet“, so die Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie ist überzeugt, dass die jetzigen Schul- schließungen enorme, bislang noch nicht bedachte Folgekosten mit sich bringen. „Diese sind für die heutige Schüler- und Studierendengenerati- on am größten. Obwohl die Jungen gesundheitlich deutlich geringer ge- fährdet sind, tragen sie enorm dazu r e f o h r e s s u A d v a D i © Dorothea Kübler bei, dass sich die Gesamtsituation entspannt hat, und werden am Ende auch die volkswirtschaftlichen Kos- ten zu tragen haben. Daher plädiere ich für evidenzbasierte Lockerungen. Welche Bereiche sollten schneller geöffnet werden? Die Lobby der Schüler*innen und Studierenden ist da leider nicht so stark“, so die Wis- senschaftlerin. Besonders schwierig schätzt sie auch die Situation von Frauen – gerade in der Wissenschaft – ein. „Die jetzigen Fördermaßnah- men gelten für Frauen und Männer. Es zeigt sich aber, dass gerade in sol- chen Krisenzeiten Frauen eher auf ihre Karriere verzichten als Männer. Daher plädiere ich dafür, spezielle Fördermaßnahmen für Frauen zu etablieren, damit sich hier die Sche- re der Karrieremöglichkeiten von berufstätigen Männern und Frauen nicht weiter öffnet, anstatt sich zu schließen.“ Den im Zusammenhang mit den Lo- ckerungen oft zitierten Gegensatz zwischen Gesundheit und Wirtschaft hält sie für konstruiert: „Nahezu alle Volkswirtschaftler*innen sind sich einig – der Lockdown war der einzig richtige Weg, um die volks- wirtschaftlichen Kosten in Grenzen zu halten. Ein zusammengebroche- nes Gesundheitssystem hätte we- sentlich höhere Kosten verursacht.“ Katharina Jung