TU intern · Nr. 5/Oktober 2020 LEHRE UND CORONA Lernen in Corona-Zeiten Drei Studierende der TU Berlin berichten über ihre Erfahrungen sowie über die Vor- und Nachteile, die die Online-Lehre bringen Ein ganzes Semester ohne eine einzige Präsenzveranstaltung auf dem Campus: unvorstellbar zu Beginn des Jahres. Doch mit der weltweiten Corona-Pan- demie ist das für Studierende in Berlin Realität geworden. Tamara, Judith und Friedrich studieren an der TU Berlin. Sie erzählen von ihren Erfahrungen aus dem Digitalsemester. Welche Vor- und Nachteile bringt die digitale Lehre und wie wird der eigene Tagesrhythmus be- einflusst? Anfangs war es kompliziert lernte Tamara Bachelor Kultur und Technik, Spra- che und Kommuni- kation, 7. Semester „Während des di- gitalen Sommerse- mesters ich vor allem mit aufge- zeichneten Vorlesun- gen oder habe an Live-Seminaren teil- genommen. Anfäng- lich empfand ich das Online-Semester als kompliziert. Es gab keinerlei Erfahrungs- werte. Ich musste mich erst einarbeiten und an die Situation gewöhnen. Studieren, arbeiten, leben: Alles an einem Ort zu meistern, nämlich zu Hause, war herausfordernd. Ich habe sehr viel Zeit investiert. Nach circa zwei Monaten hatte ich dann einen guten Rhythmus gefunden. Die Bereitschaft aller Dozierenden, uns eine angenehme Lernumgebung zu bieten, war sehr hoch und auch ihre Methodik hat sich verbessert. Wir hatten besseren Zugang zu Materialien, und auch die Möglichkeiten, unsere Lernleistungen auf unterschiedliche Art und Weise zu erbringen, waren diver- ser. Früher besuchten wir Vorlesungen und schrieben dann ganz klassisch eine Klausur. Nun konnte ich über das Semester hinweg mehrere Teilaufgaben erledigen, die dann zu einer Gesamtleistung führten. Das finde ich gut.“ – vor allem, wenn man zusätzlich einem Job nachgeht. Vor Corona habe ich um 8.15 Uhr die erste Vorlesung besucht und gegen 16 Uhr Feierabend gemacht. Dadurch, dass nun alles online stattgefunden hat, wusste ich an- fangs nicht: Wann soll ich anfangen? Wann soll ich aufhören? Letztlich saß ich oft viel zu lang vor dem Computer. Was eine Digital- Universität nicht bieten kann, ist die persön- liche Interaktion mit anderen Studierenden. Der Studienalltag fehlt natürlich komplett, und auch die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen. Das ist sehr schade.“ Kontakt zu Freunden fehlte Judith Bachelor Nachhalti- ges Management, 3. Semester „Das Digitalsemester war sehr ungewohnt. Ich habe vorwiegend Pflichtmodule be- sucht und hatte ins- gesamt nur wenig di- rekten Austausch mit Professor*innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen. Sehr gefehlt hat mir auch der Kon- zu meinen takt Kommiliton*innen. Natürlich hatte das Se- mester auch Vorteile. Ich konnte mir aufge- zeichnete Vorlesungen mehrfach anschauen oder pausieren, um mich mit dem Gehörten auseinanderzusetzen. Gleichzeitig haben ei- nige Professor*innen aber noch mehr Inhalte in eine Vorlesung integriert und waren noch ausschweifender. Dadurch habe ich insge- samt auch sehr viel mehr Zeit mit der Uni verbracht. Das ist einerseits sehr sinnvoll, an- dererseits ist bei mir dadurch aber die Freizeit – ein notwendiger Ausgleich zum Lernalltag – zu kurz gekommen. Es war schwer, sich selbst notwendige Grenzen zu setzen, be- sonders in der Zeit des Lockdowns.“ Aufgezeichnet von Anna Groh und Susanne Cholodnicki ) 4 ( h o r G a n n A / R P / n i l r e B U T © Auch die Mensen, so auch die Veggie-Mensa an der Hardenbergstraße, befinden sich im Corona-Modus und bieten Essen nach Anmeldung Neue Lernerfahrungen gesammelt „Das digitale Semester war anfänglich sehr ungewohnt und auch chaotisch. Was aber recht gut funktioniert hat, war die Lehre selbst. Man hatte eine gewisse Flexibilität und ein ungewohnt großes Angebot an Online- Formaten, sodass ich sehr flexibel lernen und vor allem neue Lernerfahrungen sammeln konnte. Dank aufgezeichneter Lehrangebo- Friedrich Bachelor VWL/ Mathematik, 5. Semester te konnte ich mich eben auch mal kon- kret auf eine Sache konzentrieren, bevor ich dann die nächste anging, und mir die Vorlesung mehrfach und zeitunabhängig ansehen. Das kommt der individuellen Ta- gesplanung entgegen kj Wenn die Studierenden nicht zum Praktikum kom- men können, dann kommt eben das Praktikum zu den Studierenden. Frei nach diesem Motto haben Prof. Dr. Stephan Drusch, Leiter des Fachgebiets Lebensmittel- technologie und -materialwissenschaften und sein Team im vergangenen Sommersemester sehr viele Päckchen mit den Grundutensilien für die beiden Praktika „Einfüh- rung in die Lebensmitteltechnologie“ und „Sensorik für Lebensmittelchemiker“ gepackt. „Auslöser war natürlich Praktikum im Homeoffice der Lockdown. Lebensmitteltechnologen sind keine Kö- che, aber lebensmitteltechnologische Praktika kommen weitestgehend ohne Chemikalien aus, da lag der Gedan- ke nah, das Praktikum zu den Studierenden zu verlegen“, so Stephan Drusch. Dazu wurden die Gerätschaften und Grundstoffe auf „Kücheninventar“ umgestellt, die Skripte neu geschrieben, Selbsttests in ISIS erstellt, teilweise kurze Videos gedreht und über 30 Pakete für die Studierenden gepackt. „Online-Praktika können natürlich das gemein- same praktische Arbeiten nicht ersetzen. Etwas selbst zu machen, ist aber nachhaltiger, als sich die praktischen In- halte auf Videos anzuschauen. Über misslungene Versuche kann man dann sehr gut diskutieren und die Ursachen hinterfragen.“ ZENTRALE BEFRAGUNG Wie war das Sommer semester? tui Die Umstellung auf Online- Lehre war die Herausforderung die- ses besonderen Sommersemesters – für Studierende und Lehrende gleichermaßen. Daher hat die TU Berlin erstmals beide Gruppen zen- tral nach einer Bewertung befragt. Die Studierenden antworteten auf Online-Fragebögen. Sie empfinden das digitale Semester überwiegend als gut gemeistert, so zeigen erste Auswertungen. Die angebotenen digitalen Lehrveranstaltungen be- werteten die meisten positiv, die Betreuung durch die Lehrenden gut und rund 68 Prozent finden, dass sich die angebotenen Lehrver- anstaltungen auch zukünftig für die Online-Lehre eignen. Viele Lehren- de, zu Homeoffice, Online-Lehre, Prüfungen, Workload, Vereinbar- keit und Krisenmanagement der TU Berlin befragt, berichten von positiven Erfahrungen, benennen aber auch Probleme. Die Ergebnis- se werden nun in den TU-Gremien diskutiert und Anpassungen für das Wintersemester abgeleitet. Die Befragung der Lehrenden wird in Kürze veröffentlicht, die Evaluation der Lehrveranstaltungen ist bereits online verfügbar. Zwanzigtausend Videos, drei Millionen Aufrufe Das digitale Sommersemester an der TU Berlin in Zahlen pp Das Sommersemester 2020 an der TU Berlin im Zeichen der Corona-Kri- se brachte vor allem die Anforderung, schnell zu reagieren und nicht nur die Verwaltung auf Homeoffice, sondern vor allem die Lehre auf digitale Ver- anstaltungen umzustellen, die Online- Lehre massiv auszuweiten, um den Stu- dierenden die Möglichkeit zu bieten, trotz Corona weiterzustudieren oder sogar ihr Studium abzuschließen. Be- sonders gefordert war dabei „innoCam- pus“, das ehemalige Zentrum für Multi- media in Forschung und Lehre, das an der TU Berlin für die Stärkung und den Ausbau der an der Uni vorhandenen Kompetenzen im Bereich eLearning, eTeaching, eResearch und eScience zuständig ist. Dort wird auch die elek- tronische Lernplattform ISIS betrieben, auf der Materialien zum Download bereitgestellt werden, Hausaufgaben eingereicht und sogar E-Prüfungen durchgeführt werden. „Im Sommerse- mester 2020 wurden hier allein rund 240 000 Testeinreichungen gezählt, also Hausaufgaben, freiwillige Tests und E- Prüfungen, rund 170 000 mehr als ein Jahr zuvor“, führt Erhard Zorn auf, Diplom-Physiker und stellvertreten- der Leiter von „innoCampus“. „Mehr als 20 000 Videos wurden hochgeladen, die rund drei Millionen Mal angesehen wurden.“ Auch das kommende hybride Wintersemester 2020/21 wird für „in- noCampus“ große Herausforderungen mit sich bringen. Präsenzveranstal- tungen unter Hygiene-Auflagen, neue Lehrvideos, Live-Veranstaltungen im Netz und vieles mehr. Fotos vom TU-Campus im Sommersemester, von Prüfungen in angemieteten Hotelsälen oder den Maßnahmen der Unibibliothek zur sicheren Ausleihe zeigte die Juli-Ausgabe der „TU intern“: https://archiv.pressestelle.tu-berlin.de/ tui/20jul/#4 ZAHLEN AUS DER LERNPLATTFORM ISIS: Aktive Kurse: SoSe 2019: WiSe 2019/20: SoSe 2020: Testeinreichungen (freiwilliger Test, Hausaufgabe, E-Prüfung): SoSe 2019: WiSe 2019/20: SoSe 2020: 66.625 105.756 236.886 1.655 1.814 2.235 Hausaufgabenabgaben: SoSe 2019: WiSe 2019/20: SoSe 2020: 52.617 76.642 152.338 Forenbeiträge: SoSe 2019: WiSe 2019/20: SoSe 2020: 29.725 34.060 108.766 Videos: Video-Aufrufe: SoSe 2020: 20.423 SoSe 2020: 2.836.003 Länge der Videos: SoSe 2020: 9.795 Stunden Video-Traffic: SoSe 2020: 435 TB Größe der Videos: SoSe 2020: 3,46 TB Kommentare/Fragen zu Videos: SoSe 2020: 8.552 Seite 5 MASTERARBEIT IM AUSLAND Ein Bild des Schreckens „Ich sende liebe Grüße aus Bei- rut“, begann eine Mail, die Laura Simak an die „TU intern“-Redak- tion schrieb. Die TU-Studentin be- richtete von einem ganz besonde- ren Sommersemester, das sie in der libanesischen Hauptstadt verbracht hat. Der Corona-Ausbruch und die katastrophale Explosion im Ha- fen von Beirut, die Anfang August 2020 große Teile der Stadt zerstör- te, änderten nicht nur ihr Leben, sondern auch das Thema ihrer Mas- terarbeit zur Stadtplanung, die uni- versitätsübergreifend von Prof. Dr. Angela Million, Stadt- und Regio- nalplanung der TU Berlin, und von Professor Robert Saliba vom De- partment Architecture and Design der American University of Beirut betreut wird. i k a m S a r u a L © Laura Simak im zerstörten Beirut „Wahrscheinlich haben mich die Erfahrungen in der ehemals geteil- ten deutschen Hauptstadt Berlin für die Situation in Beirut sensibilisiert, ebenso wie mein Projekt ‚Border- line City‘, das ich an der TU Berlin durchgeführt habe“, erzählt Laura Simak. Interessiert an Tourismus- und Stadtplanungsthemen, hält sie sich seit Anfang 2020 in der kultu- rell und konfessionell sehr diversen und von Bürgerkriegen gebeutelten, geteilten Stadt auf. So wurde sie Zeugin von tiefgreifenden Ereignis- sen, angefangen mit massiven Pro- testen gegen die Regierung, gefolgt von einem wirtschaftlichen, finan- i k a m S a r u a L © Gewalttätige Proteste im Zentrum Beiruts ziellen Zusammenbruch in Verbin- dung mit der COVID-19-Pandemie und schließlich mit der Explosion im Hafen, die große Teile der Stadt verwüstete. Nicht nur die Mobilität, auch die Forschung war plötzlich eingeschränkt. Ihre Masterarbeit wurde nun zu einem reflektieren- den Reisebericht, der alternative Methoden zur kritischen Analyse moderner Städte enthält, die sowohl außergewöhnlichen Veränderungen als auch politischen, planerischen und gestalterischen Interventionen ausgesetzt sind. Laura Simak blieb unverletzt, doch: „Die Druckwelle der Explosion zerstörte Fenster und Türen noch im Umkreis von elf Ki- lometern. Als ich am nächsten Mor- gen zum Ort des Geschehens kam, zeigte sich ein Horror-Szenario: zer- störte Häuser, Glassplitter, Blut und auf dem Kopf liegende Autos über- all.“ Auch ihr Professor lag verletzt im Krankenhaus. „Zum Glück geht es ihm wieder gut“, so Laura Si- mak. Über ihre Erfahrungen in die- ser aufregenden Zeit und die Lage in Beirut schrieb die TU-Studentin einen lesenswerten Essay (in engli- scher Sprache), der auch einen kur- zen Überblick über die Pläne zum Wiederaufbau und die Entwicklung des Stadtzentrums (Beirut Central District) nach dem Krieg gibt. Patricia Pätzold www.tu.berlin/go10754