2 | INNENANSICHTEN Grundlagenforschung an der Universität – warum und wozu? Was Helmut Schwarz der Academia zum Abschied mit auf den Weg gibt l n n a m e K n a i t s i Helmut Schwarz ist ein vehementer Kämpfer für die Freiheit der Wissenschaft – das bewies er auch mit seiner Festrede. i r h C © Traumatisierte Kinder, vergewaltig- te Frauen, Kriegskrüppel und Tote zuhauf, circa 70 Millionen Men- schen weltweit auf der Flucht, Elend und Not, wo auch immer man hin- schaut. Angesichts dieser bedrückenden Zustände fällt es nicht leicht, an einem 9. Mai bei einer akademischen Festver- anstaltung über Grundlagenforschung zu sprechen. Ich will aber trotzdem ver- suchen, mit Ihnen einige Gedanken zu teilen, die ich mir in den vergangenen Monaten zu diesem Thema notiert habe. Verehrte Frau Präsidentin, liebe Frau Rauch, sehr geehrter Alt-Präsident Thomsen, lieber Dekan Etienne Emmrich, lieber Christoph, lieber Martin, meine Damen und Herren, in seiner Autobiografie „A Mathe- matician’s Apology“ skizzierte der eng- lische Zahlentheoretiker Godfrey H. Hardy seine – nicht gerade geringen – Beiträge zur Wissenschaft im typischen Oxbridge Understatement, indem er festhielt: „Ich habe als Mathematiker nie etwas getan, was als nützlich ange- sehen werden könnte, für das Wohlbe- finden der Gesellschaft und unter nur praktischen Gesichtspunkten sind mei- ne Arbeiten und mein Leben ohne jede Bedeutung, wenn nicht trivial. Dem Ur- teil vollkommener Trivialität könnte ich nur entgehen, wenn man mir zubilligte, etwas geschaffen zu haben, was sich zu schaffen lohnte. Dass ich etwas geschaf- fen habe, ist offenkundig – die Frage ist nur, ob es etwas wert ist.“ Glaubt man, was gelegentlich behaup- tet wird, dann habe auch ich in mei- nem 56-jährigen Universitätsleben et- was geschaffen, möglicherweise sogar etwas, das zu erwähnen wert ist – und daran mit einem Kolloquium zu erin- nern, sind wir von der Präsidentin der Technischen Universität Berlin einge- laden worden. Aber in meiner Dankesrede möchte ich zunächst fragen, warum eine Uni- versität überhaupt noch ein Individu- um ehrt, statt – dem Zeitgeist folgend – Netzwerke, Teams, Koordinatoren usw. auszuzeichnen? Ich vermute, dass die Überlegung eine Rolle gespielt haben könnte, einmal den einzelnen Men- schen zu würdigen, ohne deshalb zu vergessen, dass auch er auf den Schul- tern anderer steht, gemäß Goethes Be- merkung, dass „mein [Goethes] Werk das eines Kollektivwesens ist, das nur den Namen Goethe trägt.“ Zur Erinnerung, und machen wir uns nichts vor: Ohne Goethe gäbe es we- der die „Wahlverwandtschaften“ noch den Zauber seiner Gedichte; ohne Shakespeare wüssten wir nichts von der Gewalt und Zärtlichkeit seiner Dramen, und wie viel ausdrucksärmer wäre die Weltliteratur ohne die Sprach- akrobatik eines James Joyce oder die Schilderung von Seelenlandschaften in den Essays einer Virginia Woolf, einer Katherine Mansfield; wie viel weniger pp Mit einem Festkolloquium und einem Empfang verabschiedete die TU Ber- lin am 9. Mai 2022 Prof. Dr. Drs. h.c. Helmut Schwarz, einen hervorragenden Forscher und Wissenschaftsmanager. Der vielfach mit internationalen Preisen und Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Chemiker, Bundesverdienstkreuzträger und langjähriger Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung verließ nach 56 Jahren Zugehörigkeit seine Alma Mater. Neben Musik sowie Grußworten und Laudationes des TU-Präsidiums hielten Professor Christoph Markschies, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, und Professor Martin Quack von der ETH Zürich Festvorträge. Im Zentrum stand jedoch die Festrede von Helmut Schwarz selbst, die „TU intern“ hier abdruckt. wüssten wir von den menschlichen Abgründen ohne die Stimme eines Paul Celan oder die Jahrhundertro- mane eines Lew Tolstoi, eines Marcel Proust; was fehlte nicht alles der Mu- sik und wie leer wäre das Leben ohne Mozarts Opern oder das Theater ohne die Handschrift einer Andrea Breth, ei- nes Luc Bondy; auch hätten wir keine Ahnung von Thomas Manns grandi- osem „Zauberberg“ oder von Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“. Und den bedrückenden Roman „Ist das ein Mensch?“ über den Terror in den Nazi-Vernichtungslagern Auschwitz- Birkenau gäbe es nicht ohne Primo Levis erschütterndes Zeugnis; weder Picassos „Guernica“ noch Leonar- do da Vincis anatomische Studien, Herlinde Koelbls Bildband „Jüdische Portraits“ oder Michael Hanekes fil- misches Meisterwerk existierten ohne diese Ausnahmekünstler; auch hätten wir keine „David-Skulptur“ zu be- wundern, wäre diese nicht von Mi- chelangelo aus einem Marmorblock herausgemeißelt worden, gar nicht zu reden von den einzigartigen Kunst- werken außereuropäischer Kulturen, geschaffen von meistens namenlos ge- bliebenen Menschen – und schließlich: Ohne Watson und Crick existierte jene „Nature“-Veröffentlichung nicht, die zur Ikone der Lebenswissenschaft ge- worden ist, und auch die Revolutionen im Kommunikationswesen wären ohne die Erfindung des Buchdrucks bzw. des world wide web ausgeblieben. Sicher- lich, Namen sind Schall und Rauch – erinnert sei nur an einen, John Keats zugeschriebenen Grabspruch in Rom, in dem es heißt: „His name was written on water“ –, und es trifft vermutlich zu, dass die bahnbrechen- den Erfindungen irgendwann einmal gemacht und die Kunstwerke geschaf- fen worden wären, so, wie auch die Entdeckungen stattgefunden hätten. Aber auch dann wären es immer Indi- viduen gewesen, die die entscheidende Idee gehabt und nach Laotses Maxime kühn-entschlossen gehandelt hätten, nämlich dass, „wer zur Quelle gelan- gen will, gegen den Strom schwimmen muss. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“ Meine Damen und Herren, wer mich kennt, weiß, dass ich solche Gedan- ken nicht grundlos äußere. Sie sind einer jahrelangen Beobachtung der deutschen Universitätsszene geschul- det, deren Entwicklung nicht wenige besorgt verfolgen. Aber warum nur diesen skeptischen Blick, könnte man fragen, denn schließlich sind einige der Universitäten erst vor wenigen Jahren mit einem Exzellenzsiegel geadelt wor- den, und nach dem Academic Freedom Index erfreuen sich Deutschlands Wis- senschaftler eines Spitzenplatzes in der Weltliga. Also: Wo brennt’s? Steht die Verwertungsfrage im Vordergrund, droht der Universität ein Kollateralschaden Mir scheint, dass unsere Universitäten und ihre institutionellen Zuwendungs- geber der Rolle und dem Rang des ein- zelnen Lehrers und Forschers immer weniger Gewicht beimessen und man- che ihrer Repräsentanten, fast gebets- mühlenartig, ein seltsam-irritierendes Bild von Sinn und Zweck universitärer Forschung kultivieren. Natürlich gilt auch heute, was das Weimarer Genie einmal notierte, „dass es nicht genug ist, zu wissen, man will auch anwenden; dass es nicht genug ist, zu wollen, man muss auch tun“. Aber bei aller Zustim- mung: Ich selber huldige mehr der Idee des großen Max Planck, der 1919, also in einer Zeit größter materieller Not, anlässlich der Bekanntgabe des No- belpreises für Fritz Haber, bemerkte, dass „dem Anwenden das Erkennen vorausgehen muss“, ein Ausspruch, der Deutschlands erfolgreichster For- schungsinstitution, der Max-Planck- Gesellschaft, seit Jahrzehnten als Motto dient – und deshalb einige Gedanken- splitter zu der Frage, warum und wozu auch an einer Universität Grundlagen- forschung betrieben werden muss. Universitäten waren in ihrer langen Geschichte fast immer Orte, wo alle Anstrengung primär dem Erkennt- nisgewinn schlechthin galt. Heute je- doch ist – neben einer permanenten, gewaltigen Unterfinanzierung von Hochschulen, ihrer Überfrachtung mit wissenschaftsfernen Aufgaben und ihrer Gefährdung durch politisch motivierte Aktionen – heute ist die Gefahr einer übertriebenen Ökono- misierung nicht mehr zu übersehen. Die Haltung in der Forschung, Pro- jekte mit knappen Zeitskalen und potenziellem Vermarktungserfolg per se zu favorisieren, greift wie eine ansteckende Krankheit um sich, statt neugiergetriebene, risikoreiche und auf längere Perioden angelegte Grundlagen- forschung in das Zentrum intellektueller Aktivität und praktischer Anstrengung zu stellen und sich dabei an Kants Prin- zip zu orientieren, dass „Nützlichkeits- erwägungen zunächst nur ein Moment von zweitem Range sind“. Um nicht missverstanden zu werden: Nichts, überhaupt nichts gegen eine Zusammenarbeit von Wirtschaft und Universität; ganz im Gegenteil: Uni- versitäten können als Inkubatoren für die Ausgründung von Firmen dienen, und Universitäten müssen für Anwen- dungsbezüge und Partnerschaften selbstverständlich offen bleiben, die, wie es der frühere Vorsitzende des Ku- ratoriums des Fonds der Chemischen Industrie, Heribert Offermanns, einmal formulierte, je nach Fach „unerheblich, erwünscht, erforderlich oder unerläss- lich sind“. Wenn allerdings Forscher an Hochschulen von Anfang an mit einer Nützlichkeits- oder Anwendungser- wartung konfrontiert werden und bereits auf der Ebene der Forschungs- skizzierung die Verwertungsfrage im Vordergrund steht, dann droht einer Universität, die eben nicht mit einem Wirtschaftsunternehmen verwechselt werden darf und die primär auch nicht einer direkten Wirtschaftsförderung zu dienen hat, ein Kollateralschaden. Ob in Peking oder Brüssel, ob in Berlin oder Washington, weltweit hoffen Regierun- gen immer wieder, dass eine enge Zu- sammenarbeit von Universitäten und Wirtschaft automatisch mehr Innovation, Wachstum, Wohlstand und Drittmittel liefert – und nicht wenige Universitäten akzeptieren ungeprüft diese Prämis- se. Liest man jedoch die Analysen des früheren Stanford-Präsidenten Gerhard Casper, dann erfährt man, wie wenig zutreffend diese Annahme ist, denn der mit Abstand erfolgreichste Technologie- transfer gelingt durch eine anspruchs- volle, forschungsorientierte Ausbildung erstklassiger Studenten. Stanfords un- glaubliche Erfolgsgeschichte, nämlich in weniger als 50 Jahren von einer pro- vinziellen landwirtschaftlichen Fakultät zu einer der besten Universitäten des Landes aufzusteigen, seine [Stanfords] Beziehung zum Silicon Valley oder auch die singuläre Rolle des Israel Institute of Technology (Haifa) in Israels Transforma- tion zu einem führenden Hightech-Land der Welt mögen als Beispiele dienen. Und deshalb dürfen Universitätsreprä- sentanten auch bei uns nicht nachlassen in dem Bemühen, die Gesellschaft im- mer wieder daran zu erinnern und sie davon zu überzeugen, dass jede Gesell- schaft ohne eine kontinuierliche Investi- tion in Talente und in jene Institutionen, die eine rigorose Wahrheitssuche mit der l n n a m e K n a i t s i i r h C © Auch Christoph Markschies, Präsident der BBAW, plädierte in seinem Beitrag für den Blick über den Tellerrand. Freude über Zufallsentdeckungen ver- binden, ärmer wird. Denn vergessen wir nicht: Auf nahe- zu allen Gebieten verdanken wir die entscheidenden Durchbrüche einer individuell variablen Kombination von Ausdauer, Intelligenz, Kreativität, Neu- gierde und Zufall. Das erlösende „Heu- reka“ ist in der Grundlagenforschung prinzipiell weder planbar noch kann es eingeklagt werden; es erscheint auch nicht auf Befehl, sondern tritt – eher wie Puck in Shakespeares „Sommer- nachtstraum“ – an völlig unerwarteten Stellen auf. Ferner, hinter den großen Entdeckungen, den Revolutionen und Paradigmenwechseln, steht meistens die Leidenschaft einzelner Personen, die – Verliebten nicht unähnlich – TU intern | Nr. 3/Juni 2022 kaum in der Lage sind, ihre Passion Dritten überzeugend zu erklären, die zwar für ihre Sache brennen, aber auch mit in sich versunkenen Blicken durch die Korridore ihrer Institute huschen, mitten in der Nacht aus ihrem Bett springen mögen, um einen Gedanken niederzuschreiben, eine Nachricht zu versenden oder, dem Zauberklang ei- ner Cecilia Bartoli-Arie nachhängend, ganz einfach in den Nachthimmel star- ren: träumend, sinnierend und dabei vielleicht einer Spur zu folgen schei- nen, an deren Route es keine Schilder gibt, die einem den sicheren Weg zum Erkenntnisgipfel oder weg von der Ab- sturzkante weisen. Wissenschaft soll Schneisen in wirklich unbekanntes Terrain schlagen. Auch diesen, manchmal nervenden Individualisten, nach Hans Mayer die „schöpferischen Außenseiter einer Ge- sellschaft“, einen angemessenen Platz in der Universität zu sichern, ihnen eine ihrem Denken freundlich geson- nene Atmosphäre zu bieten, sodass sie als Lehrer ihren Schülern Grund- lagenforschung als einen Beitrag zur Weltkultur vermitteln können, und sicherzustellen, dass diesen Eigen- brötlern mit Empathie begegnet wird, wenn sie einmal so reagieren sollten, wie es Michael Faraday tat, als er vom Premierminister seiner Majestät auf den Sinn und Nutzen seiner teuren, schließlich aus Steuern finanzierten Forschung zu Magnetismus und Elek- trizität angesprochen, schlicht repli- zierte: „My Lord, one day you will tax it“. Wie recht Faraday doch hatte, denn nahezu nichts von dem, was uns heute im Alltagsleben als selbstverständlich erscheint, wäre ohne Grundlagenfor- schung ermöglicht worden. Hierzu ei- nige Beispiele: Nach Schätzungen der Weltbank liegt der „return on invest- ments in research“ bei 30 bis 50 Pro- zent. Oder: Knapp ein Viertel der gesam- ten Weltökonomie kann auf Anwendun- gen der Schrödinger-Gleichung, einer rein theoretischen Übung zur mathe- matischen Beschreibung der Wellenna- tur des Elektrons, zurückgeführt werden. Es gilt, was der Präsident der American Academy of Arts and Sciences bei einer Kongressanhörung in Washington (DC) bündig konstatierte: „No basic research? Well: no iPhone“. Dann, zur Erinnerung: Kein GPS ohne Einsteins, unter prakti- schen Gesichtspunkten völlig irrelevante Allgemeine Relativitätstheorie; ferner, in der Krebsfrüherkennung gäbe es keine Positron-Emissions-Tomographie (PET), hätte der blutjunge mathematische Phy- siker Paul Dirac – ebenfalls ein Nerd – die Existenz des Positrons nicht kühn postuliert und vier Jahre später Carl Anderson das Elementarteilchen nicht identifiziert; dann: Der Laser wurde von seinem Erfinder Theodore Maiman und seinen Kollegen zunächst als ein Spielzeug ohne praktische Anwendung angesehen, und das lebensrettende Penicillin verdankt die Menschheit Sir Alexander Flemings mühseligem Stu- dium eines langweiligen Bakteriums; auch die spektakulären Erfolge in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie sind der vor circa 30 Jahren begonne- nen, zunächst ziemlich erfolglosen und heute weltweit gefeierten Forschung zur mRNA-Technologie und der un- ermüdlichen Anstrengung der großen und zugleich bescheidenen ungarischen Biochemikerin Katalin Karikó geschul- det. Die Liste mit Beispielen über den praktischen und ökonomischen Nutzen einer oft als esoterisch angesehenen Grundlagenforschung ist lang. Schon deshalb sollte keine Mühe gescheut werden, in Universitäten jenen Humus- boden wieder bereitzustellen, auf dem das scheinbar Nutzlose gedeihen möge, ihren Wissenschaftlern zu ermöglichen, Schneisen in wirklich unbekanntes Ter- rain zu schlagen, ihnen generell mehr individuelle Freiräume und größeres Vertrauen zu schenken, statt eine auf Misstrauen gegründete Kontrollmanie zu praktizieren. (Fortsetzung auf Seite 3)