TU intern | Nr. 4/Oktober 2022 FORSCHUNG | 5 Wer spricht und wer wird gehört? In dem Projekt „Museen und Gesellschaft – Kartierung des Sozialen“ wird erforscht, inwiefern Museen Orte der Verständigung und des Austausches sind Wollen die Museen in Deutsch- land als Orte des gesellschaft- lichen Austausches fungieren, müssen sie sich und ihre Depots öffnen und Informationen darüber zugänglich machen, welche Objekte sich dort be- finden, woher sie stammen und wie das Museum sie erworben hat.“ So lautet einer der Befunde von Prof. Dr. Meike Hopp aus ihren Untersuchungen in dem Projekt „Museums and Society – Map- ping the Social“ („Museen und Gesell- schaft – Kartierung des Sozialen“). Die Kunsthistorikerin, Archäologin und Lei- terin des Fachgebietes Digitale Proveni- enzforschung an der TU Berlin beschäf- tigt sich mit Kulturgütern, die wäh- rend der NS-Zeit den jüdischen Eigen- tümer*innen geraubt wurden. Es wäre ein wichtiger Schritt der Museen gegen- über den jüdischen Hinterbliebenen des NS-Terrors, Transparenz zu signalisieren und sich als Ansprechpartner-*innen er- kennen zu geben, so Hopp. Das Projekt „Museums and Society – Mapping the Social“ wird von der Ber- lin University Alliance (BUA) gefördert und gehört zu der Grand Challenge In- itiative „Sozialer Zusammenhalt“ der BUA. Das Forschungsvorhaben analy- siert die Beziehung zwischen Museum und Gesellschaft, untersucht anhand von vier Fallstudien wie zugänglich, divers, inklusiv, transparent und nach- haltig Museen sind und welche Sicht- weisen privilegiert, marginalisiert oder gar nicht thematisiert werden, also ob Museen Orte des sozialen Zusammen- halts und der Verständigung sind. Provenienzforschung im Verborgenen „Auf dem Gebiet der NS-Provenienz- forschung können wir beispielweise beobachten, dass das Wissen, das in den vergangenen 20 Jahren erhoben worden ist, nicht immer transparent gehandhabt wird. Vielfach führen Mu- seen Provenienz-forschung mehr oder l a h t n e s o R s a m o h T © Die Biodiversitätswand im Museum für Naturkunde. Die Sammlung mit mehr als 30 Millionen Objekten aus Zoologie, Paläontologie, Geologie und Mineralogie ist ein einzigartiges Natur- und Kulturgut. Dem Museum ist es ein wichtiges Anliegen, wissenschaftlich fundiertes Wissen zur Verfügung zu stellen und gesellschaftliche Debatten über das Verhältnis von Mensch und Natur anzuregen. weniger im Verborgenen durch, für die Betroffenen nicht nachvollziehbar“, so Meike Hopp. Wichtig aber wäre, dass die Museen nach außen kommunizie- ren, dass diese Forschung bei ihnen stattfindet und man sich an sie wen- den kann. „So könnte ein Dialog mit den Nachfahren in Gang gesetzt wer- den, der aufschlussreiche Informatio- nen geben könnte zur Geschichte der Objekte. Familiäre Erinnerungen, Do- kumente, die letzte Zeitzeugenschaft – das bleibt in diesem bisher sehr einseitig durchgeführten Prozess der Provenienzforschung unberücksich- tigt und ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine vertane Chance, weil er die Nachfahren der vom Holo- caust Betroffenen ausschließt und ein gemeinsames Erinnern nicht zulässt“, sagt Meike Hopp. Welche sozialen Ausschlüsse Museen auch durch die Digitalisierung produ- zieren, dieser Frage geht unter ande- rem die Fallstudie „Digitale Bilder- welten“ in dem BUA-Projekt nach. „Wir stellen vor allem Annahmen wie die, dass die Digitalisierung unein- geschränkt neue Zugänge schafft, in Frage“, sagt Meike Hopp. Ein nicht- technikaffines Publikum, Menschen, die sich die dafür notwendigen Geräte nicht leisten können, aber auch seh- und hörbehinderte Menschen profi- tierten von einem virtuellen Museums- rundgang nicht. Zudem sei der Um- gang mit den von den Museen genutz- ten Plattformen wie Facebook und In- stagram kritisch zu sehen. Es sei unter anderem zu untersuchen, ob die aus den Daten produzierten Algorithmen ein diverses Publikum adressieren. Ob sie zum Beispiel Interessen der LGBTQ+ Community berücksichti- gen, ein globales Publikum ansprechen oder weiterhin den Geschmack eines privilegierten westlichen Publikums bedienen, so Meike Hopp. „Dr. Lukas Fuchsgruber, der diesen Teilbereich lei- tet und an der TU Berlin forscht, zeigt auf, dass die Digitalisierung und Ver- datung von musealen Objekten kein neutraler Prozess ist“, erläutert Meike Hopp. Mit der Digitalisierung ist auch das Problem verknüpft, wie das Museum zu dekolonisieren ist: Welche Namen werden zum Beispiel bei der Be- schreibung der Herkunftsorte und -regionen von Objekten verwendet? Sind es indigene Bezeichnungen oder sind es die Namen, die die Kolonial- mächte einst festschrieben, die folg- lich für Genozide, Gewalt und Unter- drückung stehen (können), oder benutzt man neutrale geografische Beschrei- bungen? Ein Markenzeichen des BUA-Projektes ist es, „die Forschungsarbeit immer wie- der dahingehend auf den Prüfstand zu stellen, inwiefern unsere Forschungs- fragen soziale Relevanz haben“, er- klärt Meike Hopp. Deshalb arbeitet das Projektteam von Berlin University Alliance, HU Berlin, TU Berlin, dem Museum für Naturkunde und dem Ins- titut für Museumsforschung mit einem kritischen Beirat zusammen. In ihm sind Expert*innen zu den Themen kritische Digitalisierung, Intersektionalität, Klas- sismus, Behinderung von Menschen, Dekolonisierung und Institutionskritik versammelt. Sybille Nitsche Ruhig, zugewandt, empathisch Die Leiterin der Berliner Polizeistudie Christiane Howe fordert, Polizistinnen und Polizisten professioneller zu schulen, um diskriminierendes Handeln zu vermeiden Frau Howe, gleich zu Beginn Ihrer Ar- beit an der diskriminierungskritischen Untersuchung in der Berliner Polizei im Mai 2021 haben Ihnen Journalist*innen vorgeworfen, nicht unvoreingenommen zu forschen, weil Sie von der Prämisse ausgehen würden: Jede Gesellschaft, auch die deutsche, ist diskriminierend und rassistisch, folglich ist es die Polizei auch, da sie ein Teil der Gesellschaft ist. Was entgegnen Sie dem Vorwurf? Wir als fünfköpfiges Forschungsteam gehen davon aus, dass Rassismen und diskriminierendes Handeln alltäglich in unsere Gesellschaft eingewoben sind, wir demnach alle damit aufgewachsen sind. In verschiedenen Formen finden wir es überall vor, so auch in der Po- lizei. Es ist also nichts Polizeispezifi- sches. Deshalb hat uns auch nicht die Frage nach dem Ob interessiert, son- dern wie die Polizei dies erkennt und dem begegnet. Dafür haben Sie dreieinhalb Monate fünf Berliner Polizeidienststellen bei de- ren Arbeit begleitet und beobachtet. Auf welche rassistischen und diskriminieren- den Handlungsweisen sind Sie gestoßen? Die, die uns alle umtreiben. Wie gesagt, das ist nichts Polizeispezifisches, auch wenn sich dies im Berufsalltag doppelt niederschlagen kann. Roma“ gibt. Die herbeigerufenen Po- lizisten hatten damit schon oft zu tun. Dabei ging es auch um Diebstähle. Zu professioneller Polizeiarbeit gehört es nun, sich zu sagen: Auch, wenn es das zigste Mal ist, dass wir gerufen wer- den, und es sich eventuell wieder um Diebstahl handelt, müssen wir dieses berufliche Erfahrungswissen und die- sen rassistischen Wissensbestand re- flektieren und einklammern. Es gilt, sich in diesem doppelten Sinne darauf zu besinnen und jede einzelne Sachlage immer wieder aufs Neue neutral und zugewandt zu bearbeiten. Hier inter- essierte uns also, ob diese Reflexionen stattfinden, wie sich Polizistinnen und Polizisten möglicher Vorannahmen be- wusst werden, um Diskriminierungen zu vermeiden. Wir haben also keine extremistischen Gesinnungen abgefragt. Wenn Sie das nicht gemacht haben, dann unterstellen Sie der einzelnen Polizistin und dem einzelnen Polizis- ten, dass dieses Kopfkino an Zuschrei- bungen abläuft. Wir unterstellen nicht, wir gehen da- von aus, dass es bei uns allen im All- tag völlig selbstverständlich immer mitläuft. Niemand kann sich ohne fortlaufende Kategorisierungen und Einschätzungen im Alltag bewegen. Das verstehe ich nicht. Könnten Sie Ihren Ausgangspunkt deshalb noch einmal erklären? Nehmen wir den Fall, dass es auf dem Alex einen Konflikt mit „Sinti und Sind sich Polizistinnen und Polizisten dessen bewusst? Ja und nein, alltägliche Zuschreibun- gen zu reflektieren bedarf, insbeson- dere für diejenigen, die nicht davon betroffen sind, einiger Voraussetzungen und ist herausfordernd. Zudem ist die Polizei darauf ausgerichtet, Täterinnen oder Täter zu ermitteln. Das ist ihre zentrale Kategorie. Täterschaft erken- nen und unterscheiden, zum Beispiel anhand abweichenden Verhaltens, ist an sich schon ein schwieriges Thema. l i n n a m e K n a i t s i r h C © Die Soziologin Christiane Howe ist stellvertretende Leiterin des For- schungsbereiches Sicherheit-Risiko- Kriminologie am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin. Die Studie führte sie im Auftrag der Berli- ner Senatsinnenverwaltung durch. Die Arbeitsbedingungen – Einsatz- stress, lange Schichten, Personalman- gel – erschweren dies noch zusätzlich. Es fehlt an Zeit und Raum, um sich (selbst-)kritisch zu hinterfragen, auch wenn dies mitunter erfolgt. Zeit und Raum zu schaffen wäre wichtig auch vom Arbeitgeber, das heißt seitens der Behörde. Denn es berührt die Frage nach der Professionalität von Polizeiarbeit, die neutral und gleich- behandelnd sein sollte. Das ist natür- lich ein Ideal. Aber es gilt, diesem so nahe wie möglich zu kommen. Dar- aus haben wir dann auch eine unserer wichtigsten Handlungsempfehlung abgeleitet. Welche? In Aus- und Fortbildung müssen Poli- zistinnen und Polizisten dazu befähigt werden, zu erkennen, welchen gesell- schaftlichen und beruflichen Katego- risierungen und Zuschreibungen sie aufsitzen. Zudem müssen sie in ihren sozial-kommunikativen Fähigkeiten professioneller geschult werden, diese auch aktiv einüben, weil ihre tägliche Arbeit zu einem Großteil Kommuni- kation und Interaktion ist. Im Moment geschieht dies vor allem durch Lear- ning by Doing. Die bestehenden An- sätze reichen unseres Erachtens nicht. Eine angemessene Einschätzung der Situation und die ruhige, zugewandte, empathische, diskriminierungssensib- le Ansprache, die zum Beispiel auch darauf ausgerichtet ist, zu erklären, warum eine polizeiliche Maßnahme stattfindet, wirkt deeskalierend. Und Deeskalation wiederum ist ein guter Schutz für die Polizistinnen und Poli- zisten selbst. Das Interview führte Sybille Nitsche. JUNGE WISSENSCHAFT Fahrerloser Bahnbetrieb sn Aufwendige Untersuchungen im Fahrsimulator am Fachgebiet Bahn- betrieb und Infrastruktur stehen an. Bei etwa 20 Zugfahrer*innen werden deren Reaktionszeiten gemessen. Das Testsetting: Direkt neben der Schiene werden zwei große und zwei kleine Hindernisse platziert. Durch die Ver- wendung von zwei verschiedenen Objektfarben wird auch der Kontrast zwischen dem Objekt und seinem Hintergrund variiert. Die Probanden bekommen die Objekte bei den Ge- schwindigkeiten 40, 100 und 160 Kilo- meter pro Stunde zu sehen. „Zudem finden die Tests für das europäische und das deutsche Zugsicherungssys- tem statt. Und sobald der Zugfahrer das Objekt wahrnimmt, soll er das Sig- nalhorn drücken“, erklärt Baris Cogan. Baris Cogan t a v i r p © Cogans Experimente finden im Rah- men vielfältiger Untersuchungen zum Thema automatischer Bahnbetrieb statt. „Im Bahnbetrieb kommen mitt- lerweile viele Assistenzsysteme und fahrerlose U-Bahnen zum Einsatz. Bis zum langfristigen Ziel der Einführung des hochautomatisierten Fahrens im Fernverkehr ist jedoch noch viel Forschung notwendig. Wie schnell unsere Probanden das Objekt sehen – diese Reaktionszeiten werden in ein Modell einfließen, das Aussagen dazu machen soll, was ein fahrerlo- ses System können muss, um min- destens die gleiche Sicherheit für den Bahnbetrieb zu erreichen“, sagt Baris Cogan, der im türkischen Eskisehir und an der TU München studierte. Zu den experimentellen Arbeiten in dem Projekt „Funktionale Anforde- rungen an Sensorik und Logik einer ATO-Einheit“ gehört auch ein theo- retischer Teil. In ihm werden neben dem Sehen auch alle anderen Sin- ne des Menschen betrachtet, die Zugfahrer*innen nutzen, um einen Zug zu fahren, und jene Faktoren bestimmt, die diese Sinne bei der Ausübung der Tätigkeit beeinflussen – wie Wetter und Müdigkeit. Gründe für eine Zahnbehandlung sn Die Höhe der Zuzahlung durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), ein gutes Vertrauensverhältnis zum Zahnarzt bzw. zur Zahnärztin und seine bzw. ihre Qualifikation sind ent- scheidende Faktoren dafür, dass sich Patienten für eine Zahnbehandlung wie zum Beispiel eine Zahnkrone ent- scheiden. Das ergab eine qualitative Studie über Gründe für die Wahl oder Nichtwahl von zahnärztlichen Behand- lungen von Susanne Felgner, Marie Dreger und Dr. Cornelia Henschke am Fachgebiet Management im Gesund- heitswesen der TU Berlin. Die Kosten spielten eine wichtige Rol- le bei der Entscheidungsfindung der Befragten. Sie berichteten, dass sie auf einen Urlaub verzichten, um sich eine teure Zahnbehandlung leisten zu können, dass sie schon einmal eine Be- handlung abgelehnt haben, da sie zu teuer war, und dass sie Behandlungen, zum Beispiel eine professionelle Zahn- reinigung, nur durchführen lassen könn- ten, weil sie eine Zahnzusatzversiche- rung haben, die die Kosten übernimmt. „Für Patientinnen und Patienten sind die Kosten eine Barriere zur Vorsor- ge und Versorgung. Die Zuzahlung der GKV genügt ihnen nicht. Daher sollte darüber nachgedacht werden, ob Maßnahmen entwickelt wer- den, die teure Zahnbehandlungen erst gar nicht entstehen lassen“, sagt Susanne Felgner.