Erklärung des Präsidiums der TU Berlin zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges
Der 8. Mai ist für die Universität auch eine Besinnung auf ihren Gründungsauftrag. Die Technische Universität Berlin wurde im Frühjahr 1946 auf Veranlassung der Britischen Besatzungsbehörden mit dem programmatischen Anspruch neu errichtet, historisch gebotene Konsequenzen aus der Erfahrung des Versagens ihrer Vorläufereinrichtung, der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, im Nationalsozialismus zu ziehen. Die Universität wird die 50. Wiederkehr dieses Datums ihrer Neugründung im kommenden Jahr würdigen. Der Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands ist für die Universität Anlaß, in besonderer Weise der größeren historischen Zusammenhänge zu gedenken, in die diese Neugründung einzuordnen ist und sich der Frage zu stellen, ob und wie sie dem sich aus diesen Zusammenhängen ergebenden Gründungsauftrag gerecht geworden ist und ihm künftig gerecht zu werden gedenkt.
Perversion eines Wissenschaftsverständnisses
Grundlage dieser Besinnung muß die Reflektion der Rolle sein, die die Universität und insbesondere ihre Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei der Bildung und Festigung des nationalsozialistischen Regimes und bei Vorbereitung und Durchführung des Krieges gespielt haben. Nur mit Scham und Erschrecken können wir uns den Tatsachen der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler - wie auch anderer politisch mißliebiger Kräfte - aus der Universität und des Schweigens der großen Mehrheit der Universität zu diesen Vorgängen stellen. Die große Bereitschaft der Wissenschaftler, ihre Fähigkeit in den Dienst des totalitären deutschen Staates und seiner Kriegsmaschinerie zu stellen, gibt uns Anlaß, über die Perversion eines Wissenschaftsverständnisses nachzudenken, soweit es sich von aller normativen Bindung gelöst hat.
Bereitschaft zum Wegsehen
Aus dieser Scham und diesem Erschrecken erwächst insbesondere die Pflicht zu kompromißloser Selbstbefragung darüber, was uns in den Jahrzehnten nach dem Neubeginn von 1945/46 vielfach so unempfänglich gemacht hat gegenüber dem Gebot der Erinnerung an die Leiden der Opfer und die Verantwortung von Wissenschaftlern, die als Angehörige dieser Universität zu Mitträgern des Regimes und damit auch zu "Tätern" - zumindest in einem umfassenderen, historischen, Sinn - wurden. Es war nicht zuletzt eine Vorstellung von Wissenschaft, die meint, sich um ihre gesellschaftliche Verwendung nicht kümmern zu müssen, die es der Universität nach 1945 so leicht gemacht hat, über die Verstrickungen fachlich anerkannter Kollegen mit dem Terrorapparat des Regimes hinwegzusehen. Und es war diese Bereitschaft zum Wegsehen, die es uns vielfach schwergemacht hat, das Gespräch mit den noch lebenden Opfern zu suchen und die Erinnerung an das Schicksal der Lebenden und Toten in angemessener Weise zu pflegen.
Neben der Scham und dem Erschrecken steht das Gefühl der Dankbarkeit für die Chance des Neubeginns in Freiheit - ungeachtet aller Mitverantwortung für die vorangegangenen Verbrechen -, die unsere Universität mit der definitiven Niederringung des nationalsozialistischen Regimes durch die vier Siegermächte erhielt.
Dank an die britische Besatzungsmacht
Wir werden im Rahmen des Jubiläums der Neugründung unserer Universität im nächsten Jahr den besonderen Dank an die westlichen Besatzungsmächte, insbesondere die britische Besatzungsmacht, für die Ermöglichung dieses Neubeginns ausdrücken. Fünf Jahre nach der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und Berlins aber richtet sich der Dank für eine unverdiente Gunst der Geschichte an die Politiker aller Mächte, die diese Beendigung der unmittelbaren Kriegsfolgen für Deutschland ermöglicht haben, insbesondere aber an die vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges.
Der Vertreter der britischen Besatzungsmacht hat im Rahmen seiner Rede zur Neueröffnung der TU Berlin im Frühjahr 1946 als dringendste Schlußfolgerung aus dem historischen Geschehen für die Zukunft der Universität die Verpflichtung auf eine "universale Ausbildung", eine Ausbildung des ganzen Menschen zu einer auch sittlich-moralisch vollverantwortlichen Persönlichkeit, benannt. Die Universität hat dies damals mit der Einführung eines obligatorischen sog. "Humanistischen Studiums" einzulösen versucht. Ende der sechziger Jahre wurde dieses Modell aufgegeben. Seit einigen Jahren wird nun das zugrundeliegende Anliegen mit vielfachen Stichworten von neuem beschworen.
Haben wir nichts Hinreichendes gelernt?
Hintergrund dieses sich wieder entwickelnden Bewußtseins für die Notwendigkeit einer normativen Ein- und Rückbindung jeder Wissenschaft und insbesondere der wissenschaftlichen Lehre sind auch die Erscheinungen einer wieder auflebenden und sich in Taten offen artikulierenden Haltung der Menschen- und Zivilisationsverachtung. Die Namen von Orten wie Mölln, Solingen, Hoyerswerda stehen für diese neue Wirklichkeit. Eine der Fragen, die diese Wirklichkeit an unsere Gesellschaft stellt, lautet: Haben wir - die Gesellschaft als Ganzes - also nichts, jedenfalls nichts Hinreichendes aus unserer Geschichte gelernt? Fragen, die sich hieraus für die Universitäten stellen, lauten: Werden sie ihrer Rolle als auch kulturell wirksame Instanzen der Gesellschaft, die rechtzeitig und mit begründeter Autorität auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen vermögen, gerecht? Sind sie in der Lage, als oberste Instanzen des Bildungs- und Ausbildungssystems verbindliche Leitbilder und eine sich mit diesem verbindende staatsbürgerliche Haltung, zu vermitteln, die unsere Gesellschaft vor einer Wiederkehr der Barbarei bewahren?
Hat die TU Berlin die Chance zum Neubeginn genutzt?
Die Technische Universität Berlin wird und kann auf die Frage, ob und wie weit sie in diesem Sinne die Chance des Neubeginns in Freiheit nach dem 8. Mai 1945 genutzt und der aus dieser Chance erwachsenden Verpflichtung entsprochen hat, keine einfachen und keine affirmativen Antworten geben. Sie wendet sich gleichermaßen gegen eine letztlich unverbindliche Rhetorik der Klage und Anklage von Fehlleistungen und Defiziten der Vergangenheit. Wir müssen eine Balance finden zwischen einer Unerbittlichkeit in der Vergegenwärtigung dessen, was war, der Kontinuität, in der wir stehen und zu der wir bzw. diejenigen, in deren Fußstapfen wir getreten sind, beigetragen haben, und der Nüchternheit, die Voraussetzung dafür ist, das zu erkennen, was heute im Hinblick auf das Morgen not tut.
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