Eine Schatzkammer aus Ur-Urzeiten

Paläontologie-Professor Bernd-Dietrich Erdtmann forscht in Süd-China nach Zeugnissen früher Lebewesen


Wenn ein Mathematiker eine neue Zahl entdeckt oder ein Germanist auf ein bisher unbekanntes Schriftstück Goethes stößt, ist das ein außergewöhnliches Ereignis im Forscherleben. Das gleiche gilt für einen Paläontologen, der einen bisher unbekannten versteinerten Wurm auffindet. Prof. Dr. Bernd-Dietrich Erdtmann vom Institut für Geologie und Paläontologie ist in Süd-China mit seiner Arbeitsgruppe aber nicht nur auf einen einzelnen Wurm gestoßen, sondern fand gleich eine Vielzahl kleiner, versteinerter Tierchen aus den Ur-Urzeiten der Erde. Einmalig an dieser Entdeckung ist das sehr hohe Alter des Fundortes, der außerordentlich gut erhaltene Zeugnisse frühester tierischer Lebensformen verbirgt. Die gefundenen Fossilien überliefern Weichteile, feinste Härchen, innere Organe und sogar Darminhalte - ein sensationeller Fund, der den Wissenschaftlern eine einzigartige Chance zur Überprüfung von Evolutionsmodellen bietet.

Die Geschichte der Entdeckung dieser urzeitlichen Fundgrube beginnt im Jahr 1984, als chinesische Wissenschaftler bei einer Routineuntersuchung unterkambrischer Sedimentgesteine (Alter ca. 560 Mio. Jahre) in Südchina auf eine umfangreiche Fossillagerstätte stießen. Zum Glück für die deutschen Wissenschaftler entdeckten die chinesischen Kollegen diesen Schatz zu einer Zeit, in der sich die politische Situation Chinas bereits etwas gelockert hatte und eine Zusammenarbeit mit ausländischen Forschern möglich erschien.

Die Fossil-Fundstelle am Maotianshan, dem "hutförmigen Berg" , in der Nähe von Chengjiang, Provinz Jünan

Nach einigen organisatorischen Problemen konnte Professor Erdtmann mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern aus seinem Institut gemeinsam mit den chinesischen Partnern 1991 die Arbeit in Südchina aufnehmen. Sie waren die ersten westlichen Gastwissenschaftler, die diese Lagerstätte untersuchen durften. Was sie im Verlauf ihrer dreimonatigen Geländearbeiten entdeckten, überstieg alle Erwartungen. Überall, quer durch ganz Südchina haben die Wissenschaftler uralte, außerordentlich zarte, zum Teil aber auch sehr große Fossilien - sogenannte Megaalgen - gefunden. Das überraschende daran war, daß sie dabei in einer Gesteinsschicht, in präkambrischen Gesteinen, fündig wurden, die noch bis vor wenigen Jahren als "fossilleer" galt.

Unterseeische Eruptionen

Im späten Präkambrium vor rund 800 Millionen Jahren sah die Welt noch etwas anders aus, und die Luft war sehr viel schlechter als die heutige. Der Sauerstoffgehalt lag unter 1%, die Kontinente waren leere Steinwüsten, auf die die Sonne gnadenlos niederstrahlte, und die Zusammensetzung des Meerwassers war ebenfalls vollkommen anders. Aber es tat sich etwas auf dieser stinkenden, öden Welt - sie bewegte sich. Zu Zeiten des mittleren und des späten Präkambriums erfolgten submarine Eruptionen, die die Bildung riesiger Eisenerzlagerstätten zur Folge hatten.

In den unmittelbaren Begleitsedimenten dieser Eisenerzlagen fand Professor Erdtmann mit seinen Kollegen große, häutige Megaalgen, die sie als bakterielle Großkolonien deuten. Diese Bakterienkolonien geben einen ersten Hinweis darauf, daß sich primitives Leben möglicherweise zuerst in der Tiefe der Ozeane bildete und nicht - wie bisher vermutet - in den Oberflächenwassern.

Klimatisches Hin- und Her

Ein anderes Phänomen machte die Erde im Präkambrium noch zusätzlich ungemütlich: das Klima! Die Energieproduktion der Erde unterlag vermutlich noch großen Schwankungen, so daß innerhalb kurzer Zeit die Oberflächentemperaturen der Erde sehr krasse Unterschiede aufwiesen. Dieses klimatische Hin und Her führte zu einer erheblichen Intensivierung der Meereszirkulation, die eine Belebung der Nährstoffkreisläufe zur Folge hatte. So kam es gegen Ende des Präkambriums zu einer Veränderung der Meereswasserzusammensetzung in Richtung unserer heutigen Ozeane. Das hatte natürlich Folgen für das Leben in den Gewässern.

Ungewöhnliches Leben nistete sich in neue ökologische Nischen ein. Neben riesigen Lebensformen ohne echte Zellkerne kam es auch unter den Eukaryonten (das ist die zusammenfassende Bezeichnung für alle Organismen, deren Zellen durch einen typischen Zellkern charakterisiert sind) zu neuen Entwicklungstendenzen. Es gab den Versuch, die Größe der Zellräume zu maximieren, was dazu führte, daß riesige, blasenförmige Algen entstanden, die die Wissenschaftler in ihrer südchinesischen "Schatzkammer" zum ersten Mal entdeckten. Dieser "Vergrößerungsversuch" konnte sich in der Evolution jedoch nicht durchsetzen, er unterlag einem anderen Trend.

Kein Weiterkommen ohne echten Zellkern

Es entwickelten sich mehrzellige, spezialisierte Algen mit echten Verzweigungen. Parallel zur Ausbildung von Vielzellern unter den höheren Algen muß es auch zu einer Entwicklung bei den tierischen Einzellern, den Metazoen gekommen sein. Sie entwickelten sich zuerst wahrscheinlich zu urtümlichen Schwämmen. In der gesamten Umwälzung der Gewässer erwiesen sich die Versuche der Metazoa, Stoffwechselprodukte zu mineralischen Bauteilen zu gestalten, als erfolgreicher gegenüber der Konkurrenz. Durch die Ausbildung mineralisierter Schalen, Zähnchen und Stützskeletten entwickelte sich eine weltweite Beherrschung weiterer Lebensräume. Dagegen kamen die riesigen, aber primitiven Lebensformen ohne echten Zellkern nicht mehr an, sie mußten bald nach Erscheinen der modernen Algen und der Tierchen mit den eingebauten Hartteilen das Feld räumen.

Eines der fossilen Fundstücke aus Urzeiten: die "Wurmqualle" Eldonia mit spiralig gewundemem Magen-Darm-Trakt

Die Entdeckung der Chengjiang Weichfossil-Lagerstätte gibt den Paläontologen nun die Chance, Evolutionsmodelle zu überprüfen. Es gibt Entwicklungsmodelle, die von einer "kambrischen Explosion der Metazoa" sprechen. Demnach haben sich an der Grenze zwischen Präkambrium und Kambrium (vor 750 Mio. Jahren) sehr schnell viele verschiedene Tierstämme entwickelt, die sich mehr oder weniger zufällig weiterentwickelten oder auf der Strecke blieben. Diese als "Urknall-Theorie" bekannte Behauptung beginnt angesichts der Fossilfunde in Südchina etwas zu wanken, da es nun "Zeugen" dafür gibt, daß es bereits vor der Ausbreitung der Metazoa entwickelte tierische Lebensformen gab.

Die neuen Einblicke in die Erdgeschichte sind möglich, da die geologische Vergangenheit die inhaltsreichen Sedimente in Südchina weder durch Gebirgsbildungen zerstörte, noch in Tiefseegräben untergehen ließ. Und so hat die jüngste Schöpfung der Metazoa, der Mensch, die Möglichkeit, den eigenen Urprung noch genauer zu erforschen.

Bettina Weniger


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