"Wir bauen auf und fangen an."

Für die TU-Studierenden der ersten Stunde war die Technische Universität Lebensmittelpunkt und Zuhause


"1938 Abitur, Sommer '38 Arbeitsdienst,
Winter '38/39 Hochschulpraktikant bei
Siemens, immatrikuliert an der Techni-
schen Hochschule Berlin Sommersemester
'39, dann Krieg und Kriegsverletzung.
Juni '45 wieder in Berlin." So schildert Pe-
ter Grunow, TU-Student der ersten Stun-
de, im Eiltempo seine Lebensstationen.
Seine Eintragung ins Tagebuch am 11. Juni
1945 lautet: "An der Technischen Hoch-
schule gewesen: Wir bauen auf und fan-
gen an." Das ist genau eine Woche, nach-
dem er nach Hause kam. Schneller, sagt
er, ging es nicht. Sein Schicksal teilten vie-
le der damaligen TU-Studenten. Sie hat-
ten den Krieg überlebt, sie wollten nun
schnell ihr Studium beenden und den
Neuanfang mitgestalten.

Nach monatelangen Vorbereitungen war es am 9. April 1946 offiziell soweit: Die Wiedereröffnung der Technischen Hochschule als Technische Universität Berlin-Charlottenburg im britischen Sektor wurde feierlich begangen. Dies gelang aber erst, nachdem die vorbereitende Kommission zur Gründung der TU einen Versuch der Russen, die TU nach Lichtenberg in den Ostsektor zu verlagern, abwehren konnte. Erster Rektor und prägende Persönlichkeit für die Studierenden in der Anfangszeit wurde Professor Walter Kucharski, der bereits vor 1945 an der TH gelehrt hatte (Mechanik). Als einer der wenigen an der TH hatte er seine Korrespondenz nicht mit "Heil Hitler" unterschrieben.

[Walter Kucharski]
Walter Kucharski (1887 - 1958), Professor für Mechanik und erster Rektor der neuen TU Berlin

Studieren an der TU Berlin hieß in der Nachkriegszeit vor allem Organisieren können. Beschafft werden mußten Nahrung, Wohnraum, Geld, Kleidung und Lehrmaterialien. An Zeichenpapier mangelte es, ebenso an Schuhsohlen. Das eine wurde aus Chemnitz besorgt, das andere aus Leuna.

Die Ärmsten waren die Professoren, so Hans-Ulrich Bach, Studentenvertreter in den Anfangsjahren. "Sie hatten nichts zu essen, nichts. Wir haben für sie das Essen besorgt. Beispielsweise mußten wir bei Dipl.-Ing. Spörl Nachhilfeunterricht in Mathematik nehmen. Er verstand es großartig, den Leuten die Mathematik nahezubringen. Bezahlt haben wir ihn mit Brot, Butter und Zigaretten. Wir waren ja keine unschuldigen Hühner, der Schwarzmarkt wurde von uns stark frequentiert - und das mit großem Erfolg."

[Die 'taberna academica']
Professoren und Studenten in der "taberna academica", dem im Krieg unzerstört gebliebene Mensaraum

Organisiert wurden von den Studierenden auch die ersten Röntgenreihenuntersuchungen bei Siemens. Das erschreckende Ergebnis: 60 % der Studierenden waren TBC-verdächtig. Für die schwächsten Studenten gab es dann verschiedene kostenlose Speisungen (Rot-Kreuz- und Schwedenspeisungen). Immer waren die englischen Hochschuloffiziere dabei und haben vermittelt. Weitere studentische Aktivitäten waren der Aufbau einer Krankenstation und einer Bücherei, die Eröffnung eines Lebensmittelgeschäftes in der Nähe der studentischen Arbeitsräume. Daneben mußten die Studenten natürlich für sich selber sorgen und auch studieren. Nur ein Drittel der Studenten bekam ein Stipendium, ein weiteres Drittel einen Zuschuß von zu Hause, der Rest mußte sehen, wo er blieb. Meist haben die Frauen und Mütter gearbeitet und das Geld für den Lebensunterhalt, für die Studien- und Vorlesungsgebühren verdient. Gudrun Grunow, 1946 als Sekretärin in der Studentenvertretung tätig: "Mein Mann hat studiert, und ich war sein Bafög. Einer mußte ja Geld verdienen."

[Gudrun Grunow] [Peter Grunow]
Gudrun Grunow, ehemalige Sekretärin der Studentenvertretung ... und Peter Grunow, TU-Student der ersten Stunde

Die schlechte finanzielle Lage der Studierenden führte 1950 auch zur Gründung der TUSMA ("Telefoniere und Studenten machen alles"), einer Institution, die es heute noch gibt.

Das Dringendste in dem Anfangsjahr aber war, daß sich Universitätsleitung, Lehrpersonal und Studenten Hörsäle schufen, in denen studiert werden konnte. Mehr als die Hälfte der Lehrgebäude und der Institute der TH waren durch Kriegsschäden verlorengegangen. Die Plünderungen nach der Kapitulation und die systematische Demontage noch erhaltener wertvoller Einrichtungen vergrößerten den Schaden enorm.

[Das zerstörte TU-Hauptgebäude]
Das zerstörte Hauptgebäude der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg: Mehr als die Hälfte der Lehrgebäude und Institute war durch Kriegsschäden verlorengegangen. Wer im Sommersemester '46 immatrikuliert werden wollte, mußte 100 Stunden Aufräumarbeit nachweisen

So gehörte es mit zur Verpflichtung für jeden, der sein Studium an der TU begann, 100 Stunden Aufräumarbeiten abzuleisten. Dr. Wolfgang Goebel, Student 1946: "Zunächst haben wir die Fenster mit Pappe zugenagelt, damit wir im Winter mit Mantel und Handschuhen in der Vorlesung sitzen konnten. Dann mußten Bauschutt und umgestürzte Bäume weggeräumt werden. Das Rüstzeug hierfür war: Ein Beil, eine Säge, eine Schubkarre. Jeder durfte dann eine Aktentasche voll Holz mit nach Hause nehmen. Auch Baumaterial mußte beschafft werden, nicht immer auf legalem Wege."

Möglich wurde dies alles durch die frühe Einrichtung einer Studentischen Arbeitsgemeinschaft, deren Mitglieder die Selbstverwaltung der Studenten zu organisieren begann. Sie arbeiteten eng mit dem Rektor Professor Kucharski, dem TU-Professor Wille und den Beratern der Briten zusammen. Die Arbeitsgemeinschaft wurde durch das erste Studentenparlament der TU, gewählt im Dezember 1946, abgelöst. Die Wahlbeteiligung bei rund 1600 Studenten lag immerhin bei gut 80 %.

T.U.-ZEITUNG UND KULTURELLES LEBEN

Schon früh verfügten sie über ein eigenes Publikationsorgan, die T.U.-Zeitung, die von den Briten lizensiert und vom Telegraf kostenlos gedruckt wurde. Es war ein Forum für Diskussionen über das Studium generale, die Hochschulreform und die laufenden Tagesgeschäfte.

Neben den Anstrengungen, die materielle Not zu beseitigen, vergaß man nicht das kulturelle Leben. Die Faschingsbälle der TU waren, so Hans-Ulrich Bach, berühmt und berüchtigt zugleich. Das Kulturreferat der Studentenvertretung, so Klaus Hendel, damaliger Architekturstudent und Kulturrefent in der Studentenvertretung, pflegte Verbindungen zu allen Theatern, Opernhäusern und zu den Philharmonikern. Kulturell wurde alles abgedeckt, was es gab. Zusammen mit Friedrich Luft und Ernst Schröder wurde z. B. das Theater "Die Tribüne" aus der Taufe gehoben.

[Klaus Hendel 1946] [Klaus Hendel 1996]
Kulturreferent Klaus Hendel 1946 ... und heute

So blieb es nicht aus, daß die TU für einen Großteil der Studenten nicht nur der Ort des Lernens war. "Wir lernten und arbeiteten an der TU. Sie war unser Zuhause. Sie war unser Lebensmittelpunkt. Man fuhr morgens hierher und ging abends nur zum Schlafen nach Hause", berichtet Klaus Hendel.

Dem Anliegen der Briten und der Universitätsleitung, nicht das Spezialistentum, sondern eine Bildung der gesamten Persönlichkeit zu fördern, wurde durch verschiedene Aktivitäten Rechnung getragen: Einführung des Studium generale, Gründung der Humanistischen Fakultät, aber auch durch viele Veranstaltungen außerhalb des regulären Lehrplanes, etwa Studienreisen nach Großbritannien, internationale Ferienkurse in Berlin, Gründung von studentischen Clubs nach englischem Vorbild.

"WIR WAREN ALLE BILDUNGSHUNGRIG"

Beim Studium generale, das wegen der zusätzlichen Belastung für die Studierenden nicht überall auf Gegenliebe stieß, waren, so Hans-Ulrich Bach, die Einzelvorträge manchmal wichtiger als die Dauervorlesungen. "Zum Beispiel haben wir bei Frau Dr. Lüders, FDP, die nachher im Bundestag war, Politik gehört. Das war einfach phantastisch. Dann, in 1946, hielt Professor Friedrich Freiherr von Weizsäcker einen Vortrag über das Weltbild der Phsyik. Wir waren begeistert. Auch die Briten haben Vorträge gehalten, denn sie waren sehr bemüht, die TU als ein Modell ihrer reeducation darzustellen. Wir hatten zwölf Jahre Nazizeit hinter uns, und davon sechs Jahre Krieg. Wir alle waren bildungshungrig. Und dieser Bildungshunger überwog jede körperliche Beanspruchung oder Inanspruchnahme. Es gab den Begriff Überforderung nicht. Wir haben alles aufgegriffen was es gab."

Arbeitete die Studentenvertretung der TU in der Anfangszeit noch mit den Kommilitonen der Berliner Universität im Ostsektor zusammen, so blieb auch hier der Kalte Krieg nicht ohne Folgen. Von den Kommunisten, auch von denen an der TU, hatte man schon frühzeitig versucht, sich fernzuhalten bzw. sie auszugrenzen. Die massive und folgenschwere Unterdrückung der freien Meinungsäußerung an der Berliner Universität, die Verhaftung von Studenten aber erforderte eine eindeutige politische Stellungnahme. Daher wurden von der TU-Studentenvertretung die Bestrebungen, eine neue "freie" Universität in West-Berlin zu gründen, maßgeblich mit initiiert und unterstützt.

LOSLÖSUNG VON DEN KOMMUNISTEN

Auch in den eigenen Reihen löste man sich demonstrativ von den Kommunisten, so in dem 1946 gegründeten studentischen Club "Die 33" und im Lehrkörper. Hans-Ulrich Bach erinnert sich: "Der Name des Clubs kam daher, daß es nicht mehr als 33 sein durften. Der Club lud Leute zu Vorträgen ein, er war auch ein Bestandteil des Studium generale. Wir trafen uns alle vierzehn Tage. Dazu gehörten auch noch ein paar Professoren, z.B. Professor Heinrich Franck, der Chemiker. In Folge der politischen Konfrontation zwischen Ost und West löste sich dieser Club im Mai 1949 auf. Ein Grund: Prof. Franck, ein toller Kerl, war von Hause aus Kommunist. Das störte uns bei 'Die 33' überhaupt nicht. Aber als Prof. Franck am 1. Mai 1949 als Professor der TU auf der großen Maikundgebung mitmarschierte, ging das von Staats wegen nicht mehr." Auch für den Club war er nicht mehr tragbar. 1950 wurde Prof. Franck aufgrund des Votums einer studentischen Vollversammlung aus den TU-Hochschuldiensten entfernt.

[Hans-Ulrich Bach 1946] [Hans-Ulrich Bach 1996]
Hans-Ulrich Bach, ehemaliger Studentenvertreter ... erinnert sich 50 Jahre später (Fotos: privat, TU-Pressestelle)

Ein anderes Beispiel für das politische Engagement der TU-Studentenvertretung waren die Weltjugendfestspiele Pfingsten 1951, die in Ost-Berlin stattfinden sollten.

Hans-Ulrich Bach war dabei: "Die haben wir auseinandergenommen, total auseinandergenommen! Es ist alles von der TU getan und organisiert worden, daß nicht eine Veranstaltung mehr in Ost-Berlin stattfand, sondern alles im Westteil der Stadt. Die Blauhemden (= FDJ) kamen alle in den Westen, hier wurden sie auch verpflegt. Die FDJ'ler wurden auf dem Kudamm mit Tatütata zum Abendessen in die TU-Mensa eingeladen. Das waren alles politische Aktionen, und wir waren in der ganzen Bundesrepublik bekannt dafür. In dieser Zeit war die Rolle der Studentenvertreter nicht unerheblich, wie überhaupt die Studentenschaft damals wesentlich politischer war als heute. Die TU hatte damals im gesamten deutschen Universitätsleben ihre Nase drin. Entweder waren es die Professoren, vor allem Professor Kucharski und Prof. Wille, oder es waren in voller Breite die Studentenvertreter." 1968 brach dann mit der 68er Generation die studentische Selbstverwaltung zusammen, ebenso der Dachverband, der Verband deutscher Studentenschaften.

Kristina R. Zerges


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