TU-Wissenschaftler entwickeln Simulationssystem, das Aufschluß über die Arbeit von Streckenfluglotsen gibt
Wie sehr der Mensch auf die Technik an-
gewiesen ist, wird jedem von uns beim
Fliegen deutlich - hier geht ohne eine
ausgefeilte, komplizierte Technik gar
nichts. Sowohl technisches, aber auch
menschliches Versagen können verhee-
rende Folgen haben. Bei vielen Flugzeug-
abstürzen hat häufig das "Zusammen-
spiel" von Mensch und Technik nicht
funktioniert. Nicht nur im Cockpit liegt
die Verantwortung für einen sicheren
Flug, auch die Lotsen am Boden tragen
einen großen Teil zur Flugsicherung bei.
Während die Lotsen im Tower eines Flughafens für
den An- und Abflug der Maschinen zuständig sind, kümmern
sich die sogenannten Streckenfluglotsen um die langen Flugstrecken
zwischen den Airports. Dabei haben sie im Gegensatz zu ihren Tower-Kollegen
keinen Blickkontakt, sondern arbeiten ausschließlich mit
ihrem Computerbildschirm (Foto: Siemens)
Denkt man an Fluglotsen, so denkt man in erster Linie an den Tower am Flughafen. Von hier aus wird jedoch "nur" der An- und Abflug der Flugzeuge auf den Start- und Landebahnen koordiniert. Die Tower-Lotsen haben in der Regel Sichtkontakt zu den Maschinen, die sie gerade leiten. Anders ist das bei den sog. Streckenfluglotsen. An sie wird das Flugzeug übergeben, sobald es den Flughafenbereich verläßt. Im Gegensatz zu den Tower-Lotsen arbeiten sie ohne Sichtkontakt zu den Flugzeugen. Sie sitzen, umgeben von Computern, in halbverdunkelten Kontrollzentralen und müssen zahlreiche Flugzeuge gleichzeitig überwachen. Über Deutschland fliegen im Jahr rund 1,9 Millionen Flugzeuge hinweg. Das sind etwa 5000 Flüge pro Tag, die von den Lotsen kontrolliert werden. Die Leistung, die sie dabei erbringen, ist am ehesten vergleichbar mit einem dreidimensionalen Schachspiel, bei dem höchste Konzentration abverlangt wird.
Fragt man jedoch einen Streckenfluglotsen, wie er es schafft, sich gleichzeitig etwa zwanzig Flugzeuge so zu vergegenwärtigen, daß er verläßlich voraussagen kann, wo Kollisionen drohen, dann kann er darüber keine Auskunft geben. Während die Informationsverarbeitung des technischen Systems bekannt ist, ist diejenige des Menschen, in diesem Fall des Streckenfluglotsen, weitgehend unerforscht.
WAS IN DEN KÖPFEN VORGEHT
Was in den Köpfen der Streckenfluglotsen vor sich geht, damit beschäftigt sich ein Forschungsprojekt mit dem Titel "En-Route Controller's Representation" kurz EnCoRe, das an der TU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Eyferth (Institut für Psychologie am Fachbereich Maschinenbau und Produktionstechnik) durchgeführt wird.
Hintergrund für dieses Projekt, das seit 1992 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird, ist die Tatsache, daß in der Flugsicherung nach Möglichkeiten gesucht wird, den Lotsen einen Teil ihrer Arbeit durch technische Hilfe abzunehmen. Einer der Gründe dafür ist der steigende Flugverkehr: Allein für den deutschen Luftraum erwartet die Deutsche Flugsicherung DFS bis zum Jahr 2000 rund 2,5 Millionen Instrumentenflüge im Jahr - im Vergleich zu 1993 ein Wachstum von fast 40 Prozent. Der Aufwand der Flugkontrolle wird zu hoch werden - aus diesem Grund sucht man nach Möglichkeiten, bestimmte Teilaufgaben der Lotsen zu automatisieren.
AUTOMATISIERUNG BIS WOHIN?
Die Frage, die die Wissenschaftler in diesem Zusammenhang bewegt, liegt darin, inwieweit eine Automatisierung bestimmter Aufgaben ein mögliches Nachlassen der Lotsenleistung zur Folge haben kann. In einem Simulationsmodell soll geklärt werden, welche Leistungen automatisierbar sind, damit Fluglotsen auch weiterhin schnell und sicher die richtigen Entscheidungen treffen.
Grundlage des Projektes ist ein Simulationssystem, das die Wissenschaftler am Institut für Psychologie der TU Berlin in eineinhalbjähriger Arbeit entwickelt haben und das weitgehend wiedergibt, was in der Luftraumkontrolle passiert. Dies war notwendig, da es unmöglich ist, den Fluglotsen währen seiner eigentlichen Arbeit mit wissenschaftlichen Experimenten zu stören. Also wurde ein Streckenfluglotsen- Arbeitsplatz gebaut, der den Wissenschaftlern die Möglichkeit gibt, in das System einzugreifen und von den Lotsen bestimmte Aktionen zu verlangen. Die Versuche werden mit fast allen Berliner Lotsen (rund 60) der Deutschen Flugsicherung (DFS), die für verschiedene Berliner Sektoren zuständig sind, durchgeführt.
SCHATTIERTE INFORMATIONEN
Interessiert sind die Wissenschaftler beispielsweise an der Informationsaufnahme der Lotsen. Sie möchten wissen, in welcher Sequenz und unter welchen äußeren Umständen, sich die Lotsen nach Flughöhe, der Geschwindigkeit oder nach dem Bestimmungsort des Flugzeugs erkundigen. Normalerweise haben die Streckenfluglotsen zu jedem Flugzeug, das sich auf ihrem Radarschirm befindet schriftliche Informationen über Höhe, Geschwindigkeit, Position, Ziel etc. Beim wissenschaftlichen Experiment werden auf dem Radarschirm des Simulators alle schriftlichen Daten schattiert, so daß sie nicht direkt zu lesen sind. Wenn der Lotse jedoch mit dem Mouse-Courser darauffährt, tauchen die Informationen in ihrer üblichen Form wieder auf. Mit diesem Verfahren läßt sich die Reihenfolge der Abfrage von Informationen kontrollieren.
Eine andere Simulation gibt eine Routinekontrolle im Berliner Luftraum wieder. Nach vorheriger Ankündigung wird der Bildschirm plötzlich abgedunkelt, kurz vorher wurde ein Flugzeug mit gelber Farbe gekennzeichnet. Die Aufgabe, die hier zu lösen ist, besteht darin, die Position, die das Flugzeug nach 60, 90 und 180 Sekunden einnehmen wird, zu schätzen. Mit Hilfe des Mouse-Coursers soll die Position des Flugzeugs angeklickt werden, nachdem der Lotse die schriftlichen Informationen zu dem Flugzeug erhalten hat. Dieses Verfahren gibt Aufschluß darüber, unter welchen Bedingungen der Fluglotse in der Lage ist, zukünftige Zustände vorauszusehen.
BRENZLIGE SITUATIONEN ABSCHÄTZEN
Festgestellt wurde dabei, daß die Lotsen sehr genau die Flugzeuge wiedergefunden haben, die sich ganz zentral in ihrem Kontrollbereich oder in einer Konfliktsituation befanden. Das bedeutet, daß die Vorabschätzung in brenzligen Situationen sehr gut ist. Anders bei Flugzeugen, die sich in der Peripherie aufhalten und sich nicht in einer Konfliktsituation befinden: diese wurden von den Lotsen weniger genau lokalisiert, was darauf schließen läßt, daß die Vorabschätzung hier wesentlich schlechter ist.
Alle Befunde über die mentale Informationsverarbeitung der Fluglotsen, die in den verschiedenen Versuchen zusammenkommen, sollen in einem Rechner implementiert werden. Das Modell, das dabei entsteht, soll Aufschluß darüber geben, wie der Lotse "funktioniert". Denn ist die Arbeitsweise der Lotsen eindeutiger beschrieben, dann lassen sich die Folgen geplanter Automatisierungen wesentlich besser vorhersagen.
Automatisierung heißt nämlich auch, daß Information den Menschen nicht erreicht, mit denen er heute zu arbeiten ggewohnt ist. Der Lotse muß sich, dank der Technik, zwar weniger konzentrieren, aber er weiß auch weniger über den aktuellen Zustand im Luftraum, da ihm die Zusammenhänge fehlen. Vor- und Nachteile bestimmter Automatisierungen müssen also genau gegeneinander abgewogen werden.
Der Fluglotsen-Simulator wurde auch schon der Öffentlichkeit vorgestellt: Im Rahmen des Forschungsmarktes Berlin wurde er auf der CeBIT '96 vom 14.-20. März in Hannover gezeigt. Außerdem ist das Projekt integriert in das Zentrum Mensch-Maschine-Systeme (ZMMS), eine fachübergreifende Einrichtung, die es seit 1994 an der TU Berlin gibt.
Bettina Weniger