Sieben Professoren stellen ein Positionspapier zur Lage der TU Berlin zur Diskussion - Ein Appell zur Neuorientierung
Die TU Berlin befindet sich nach der Meinung von sieben Professoren in der Krise, in einer Krise des Selbstverständnisses. Damit sich diese nicht weiter ausbreitet, richten die Professoren einen Appell zur Neuorientierung an die Mitglieder der Technischen Universität Berlin:
Einerseits kann die TU Berlin auf Institute, Fachgebiete und Professoren verweisen, die in Wissenschaft und Praxis ein exzellentes Renommee genießen. Andererseits befindet sich die TU Berlin als Institution nach Meinung der Unterzeichner in einer Krise des Selbstverständnisses. Sie hängt zusammen mit der extremen Politisierung der Universität. In der Befürchtung, daß die Krise auf der institutionellen Ebene zunehmend deutlicher letztlich auch auf die Fachgebiete negativ zurückschlagen könnte, möchten wir einen Appell zur Neuorientierung richten, indem wir auf uns besonders kritisch erscheinende Punkte aufmerksam machen:
1. Gruppenuniversität. Das ursprünglich in aufklärerischem Geist formulierte Konzept einer Gruppenuniversität droht (auch) in der TU Berlin zu einem Forum zu degenerieren, auf dem verschiedene Lobby- bzw. Statusgruppen ihre Interessendurchsetzung zu Lasten Dritter zu maximieren versuchen. Man sucht vergeblich nach einem integrierenden Band. Dabei ist verschärfend in Rechnung zu stellen, daß die Gruppenuniversität die Statusgruppen-Logik nicht nur voraussetzt, sondern immer wieder neu reproduziert. Im Akademischen Senat wird als Symptom hierfür über Grundsatzfragen nur wenig diskutiert; dies könnte damit zusammenhängen, daß es keinen Konsens mehr zur Frage gibt, was eine Universität zu einer Universität macht. Folglich ersetzt man den Prozeß der Diskussion durch das abkürzende Fingerhochheben.
2. Umkehrung des Machtgefälles. Anregungen von Professoren wird in der politischen Arena nur geringe Beachtung geschenkt; Proteste von Studenten oder anderen Statusgruppen sind dagegen medien- und politikwirksam. Im Akademischen Senat zeigt sich diese Umkehrung z.B. darin, daß sich Professoren zensieren und belehren lassen, Professoren in nachgeradezu peinlicher Form um das Wohlwollen der anderen Statusgruppen buhlen und entsprechende Beschlüsse fassen (jüngstes Beispiel: Die pauschalisierende Ablehnung von Studiengebühren).
3. Fraktionsbildung. Unabhängig hiervon (und gleichsam quer zur Statusgruppen-Universität verlaufend) ist im Sinne der Politisierung zusätzlich eine Fraktionsbildung erkennbar, die zwar einerseits der Handlungsfähigkeit dienlich sein kann, andererseits nach Meinung der Unterzeichner per Saldo aber negativ einzustufen ist. Die Fraktionierung des Senats in die beiden Blöcke der Tür- und Fensterfraktion (die zugehörigen parteipolitischen Linien verlaufen unscharf) stellt eine Besonderheit der TU Berlin dar, die ihresgleichen sucht. Die Fraktionierung ist strukturell durch das sogenannte Listenverfahren vorgegeben. Die Unterzeichner fordern eine Abkehr von diesem Verfahren. In anderen Bundesländern sind entweder die Dekane qua Amt Mitglieder des Senats, oder aber die Professoren des jeweiligen Fachbereichs wählen aus ihrer Runde einen Delegierten in den Senat. Beide Vorgehensweisen erhöhen die Chance dafür, daß im Senat individuelle, fachbezogene Standpunkte aufeinander treffen und damit zugleich der eher unselige Fraktionszwang unterlaufen wird. Die Unterzeichner gehen von der Überzeugung aus, das sich eine Universität im Kern selber aufgibt, wenn sie im unvermeidlichen Umgang mit Pluralität und Komplexität die Praktiken von Fraktionen (hier vor allem: Fraktionszwang) aus der großen Politik im Verhältnis 1:1 übernimmt.
4. Politisierte Kommunikationsstruktur. Die Kommunikationsstruktur im Senat ist durch ein erhebliches Maß an Taktik, Ritualisierung und Unspontaneität gekennzeichnet. Unter diesen Randbedingungen ist das Zustandekommen qualitativ hochwertiger Entscheidungen behindert, obwohl sich für die Universität gerade in der unmittelbaren Zukunft u.a. in strukturpolitischen Fragen ein vermehrter Entscheidungsbedarf ergibt.
5. Das Modell der Großen Koalition. Insbesondere der Senat scheint derzeit nach dem Modell der Großen Koalition zu arbeiten. In merkwürdiger Verwässerung haben sich die Tür- und Fensterfraktion soweit angenähert, daß trügerischer Pseudokonsens als Konsens erscheint und die Fensterfraktion zu Kompromissen bereit ist, die nach Meinung der Unterzeichner Substanzverlust implizieren. Angesichts dieser Mentalität der Großen Koalition bleiben qualitativ konsequente (wenngleich strittige) Problemlöseansätze (z.B. das ehemalige Strukturpapier des Präsidenten) notwendigerweise auf der Strecke. Da Außenseiter nur eine Chance haben, wenn sie sich in die verwässernde Mentalität der Großen Koalition integrieren lassen, ist Anpassung das Gebot der Stunde, so daß nicht Innovativität, sondern Konformität (und das in die inhaltlich falsche Richtung) das Feld beherrscht.
6. Inflationierung des Gremienwesens. Die Politisierung zeigt sich schließlich in der selbstzerfleischenden und lähmenden Inflationierung des Gremienwesens. Die Unterzeichner wehren sich dagegen, daß in zentralen Gremien die Studierenden bereits per Satzung strukturell bevorzugt repräsentiert werden und beklagen insbesondere die wiederum strukturell verankerte zentralistische Neigung entsprechender Gremien, bevormundend in die Fachbereiche hineinzudirigieren. Die selbstüberheblichen Versuche der LSK, eine von manchen Fachbereichen als Zumutung erlebte Musterprüfungsordnung durchzusetzen, ist für diese zentralistische Tendenz ein jüngstes Beispiel. Daß damit nicht nur die Verwaltung im engeren Sinne, sondern auch die akademische Selbstverwaltung extrem zentralistische Züge aufweist, ist in einer Zeit, in der die Forderung nach mehr Hochschulautonomie und innerhalb der Hochschulen nach mehr Fachbereichsautonomie erhoben wird, schlicht ein Anachronismus.
7. Abnehmende Effizienz. Die Politisierung der Strukturen kostet nach Meinung der Unterzeichner nicht nur Zeit. Sie behindert die Etablierung einer problembezogenen Kommunikationsstruktur, beeinträchtigt in vielen Fällen die Entscheidungsqualität und bewirkt - dies ist einer der gefährlichsten Mechanismen - in Teilen der Universität Resignation und Apathie in Bezug auf alle diejenigen Fragen, die das unmittelbare Fachgebiet bzw. den unmittelbaren Fachbereich überschreiten; die Forcierung eines einseitigen Demokratieverständnisses erzeugt inzwischen ein Paradox: Angetreten mit dem Ziel, die Mitglieder der Universität zur Mitwirkung einzuladen, erzeugt die politisierte Struktur inzwischen das Gegenteil: Sie wirkt ausladend. Selbst auf der normativen Ebene erweist sich insofern das gegenwärtig praktizierte Modell als kontraproduktiv.
8. Von der Lehre zur Absolventenfabrik. Die Unterzeichner beklagen, daß die Universität seitens der politischen Instanzen zunehmend einseitiger an der Menge der Absolventen pro Zeit gemessen und bewertet wird. Während die Universität früher eine Stätte der "Forschung und Lehre" war, sind wir heute ein Ort, an dem "Lehre, Studium und Forschung" stattfinden soll. Wir fordern, dieser bereits auf der sprachlichen Ebene offenkundig werdenden Umkehrung der Prioritäten den politischen Instanzen gegenüber mit Nachdruck entgegenzutreten. Um so beklagenswerter ist es, daß dieses fremd aufoktroyierte Universitätsverständnis inzwischen zum nicht-hinterfragten Selbstverständnis wesentlicher Universitätsrepräsentanten mutierte.
Studienberatungsbüros sollen in dieser Notlage Abhilfe schaffen können. Wir bezweifeln die Effektivität dieser mit unklarer Zielsetzung eingerichteten Büros, die mehr oder weniger unkoordiniert neben den zentral und dezentral ohnehin schon vorhandenen Beratungsinstitutionen arbeiten und nach Meinung vieler Kollegen die Funktion einer politischen Beruhigungspille erfüllen. Es stört die Unterzeichner zusätzlich, daß die Beratungsbüros im Sinne einer oberflächlichen Studentenfreundlichkeit personell großzügig ausgestattet werden, während in manchen Fachgebieten der laufende Betrieb nur noch mit Notprogrammen gefahren werden kann und der Senat gleichzeitig Professuren und zugehörige WM-Stellen kappen mußte.
9. Die Vertreibung der Forschung an die Peripherie. Wie schon ausgeführt, wird aus "Forschung und Lehre" "Lehre, Studium und Forschung". Dies spiegelt nicht semantische Beliebigkeiten, sondern einen Wechsel der politischen Programmatik wieder. Die Universität wird in ihrem Kern in Frage gestellt, wenn das für sie konstitutive Moment der Forschung auf einen nachgeordneten Rangplatz verwiesen wird. Es überrascht insofern überhaupt nicht, ist aber nichtsdestoweniger ein Ärgernis, daß in den dem Senat hierzu vorliegenden Papieren nicht hinreichend unterstrichen wird, daß die Lehre (und dies in einigen Fächern selbst im Grundstudium) wesentlich auch eine Funktion lebendiger Forschung ist. Als Symptom dafür, daß dieser Zusammenhang nicht gesehen wird, beklagen die Unterzeichner den Umstand, daß in dem vom Senat fast einstimmig verabschiedeten Tutorenausstattungsplan keine einzige Stelle ausgewiesen ist, die ausdrücklich der Forschung (eines Lehrstuhls) zuarbeitet.
Die neue Doktrin der Lehr-Priorität hat den Charakter eines Diktats und stellt zugleich ein Tabu dar; sie erinnert mehr an die Kategorie der political correctnes denn an die Kategorie Einsicht. Einem schiefen Denken folgt selbstverständlich auch ein schiefes Handeln.
10. Verwässerte Übergänge zur Fachhochschule. Die Öffnung gegenüber den Fachhochschulen kann man als Errungenschaft, aber auch als Gefahr interpretieren. In einer universitären Landschaft, in der sich eine Nachbaruniversität als Elite-Universität zu etablieren versucht, betrachten wir es als eine dysfunktionale Wettbewerbsstrategie, die zunehmende politische Akzeptanz von Fachhochschulen dadurch kompensieren zu wollen, daß eine Universität die Fachhochschulen auf der ihnen eigenen Spur der Praxisrelevanz durch ein vordergründiges Verständnis von Praxis und in der Lehre durch eine überzogene Verschulungstendenz zu überholen versucht. Wir fordern auf diesem Feld mehr Mut, Unterschiede zu betonen und diese Unterschiede z.B. durch entsprechende Zurückweisung politischer Anstrengungen, diese Unterschiede einzuebnen, zum Ausdruck zu bringen. Hierzu zählt auch eine entsprechende Berufungs- und Habilitationspolitik. Bei aller Unterschiedlichkeit in den verschiedenen Fächern markiert die Habilitation in der Bundesrepublik in ihrem ausdrücklichen Forschungsbezug ein Spezifikum universitären Selbstverständnisses. Wir betrachten es insofern als eine Gefahr, wenn sich mit dem Argument der lehrbezogenen Notwendigkeit rascher Stellenbesetzungen zunehmend der Trend breit macht, bei Berufungen auch in den Fächern die Habilitationsanforderung (bzw. den Nachweis gleichwertiger wissenschaftlicher Leistungen) hintanzustellen, in denen dieses Erfordernis eine bewährte Tradition darstellt.
11. Abkehr vom Leistungsprinzip. Berufungen stellen in anderen Bundesländern Auszeichnungen dar, die durch eine entsprechende Ressourcenausstattung weitgehend auf Dauer belohnt werden. Die leistungs- bzw. berufungspolitisch außerordentlich wichtige "Ewigkeit" währt in der TU Berlin dagegen im Zuge der HEP-Verplanung nur fünf Jahre, ohne daß dies den Bewerbern im Rahmen ihrer Berufungsverhandlungen immer klar gesagt wird. In dieser Verkürzung der "Ewigkeit" kann kaum die Stützung des Leistungsprinzips erkannt werden, von den berufungspolitisch negativen Konsequenzen ganz zu schweigen.
Die im Senat geführten Diskussionen um die Ermöglichung von Gruppenpromotionen verweisen in eine ähnliche Richtung. Auch die vielen die Prüfungsanforderungen senkenden Ausrichtungen neuer Prüfungsordnungen sind hier symptomatisch.
Schließlich ist noch auf eine Kuriosität zu verweisen, die vermutlich aber Symptomcharakter hat: An der TU Berlin ist es formal möglich, daß bei der Begutachtung einer Habilitationsschrift, bei der ausschließlich der Forschungsbezug Gegenstand der Betrachtung ist, als Gutachter auch solche Personen in Betracht kommen, die nie ein ordentliches Berufungsverfahren durchlaufen haben, nicht promoviert und auch nicht habilitiert sind. Die damit einhergehende Entleerung des Professoren-Titels und Entwertung universitärer Qualifikationsverfahren verbinden sich mit der Gefahr schwerwiegender Reputationseinbußen nach außen, verstärken bestehende Vorurteile gegenüber der "weichen" Berliner Zensurenpolitik und verschlechtern u.U. die Wettbewerbslage der TU Berlin und ihrer Absolventen. In einer Welt, in der die Qualitätssicherung zu einem zentralem Thema avanciert, stellt die obige Kuriosität in der Tat einen Skandal dar.
12. Unzureichende Kundenorientierung in der Verwaltung. Viele Kollegen klagen darüber, daß Teile der Verwaltung häufig nicht zu einer Ent-, sondern Belastung beitragen und die Fachbereiche nicht unterstützen, sondern überwachen. Wir wünschen uns ein Zentrale Universitätsverwaltung, die sich weniger richtlinienorientiert einstellt und ihre eigene Effektivität vor allem daran mißt, inwieweit sie die Durchführung von Forschung und Lehre erleichtert.
Fazit: Wir haben den Eindruck, daß die Universitäten in der Bundesrepublik generell einen Pendelschlag von einem Extrem in das andere Extrem vollzogen haben und daß dies in ganz besonderem Maße für die Berliner Universitäten gilt. Unser Anliegen lautet dabei nicht: Zurück zu den alten Strukturen. Wir meinen lediglich, daß der beschriebene Richtungswechsel zu weit gegangen ist, wir also aus dem Entweder - Oder herausfinden müssen und eher dann zu einer funktionsfähigen Universität kommen, wenn wir uns um eine andere Form von Balance zwischen der "alten" und der "neuen" Universität bemühen.
Wir meinen auch nicht, daß es nur Anlaß zur Kritik gibt. Im Gegenteil: Wir bewerten es z.B. als ausgesprochen positiv, daß in der TU Berlin über Bewertungen der Forschungs- und Lehrleistungen der Versuch unternommen wird, Ressourcen leistungsabhängig zu verteilen. Trotz positiver Beispiele meinen wir aber, daß eine grundsätzliche Neuorientierung und ein Richtungswechsel unabdingbar sind. Ein Neuanfang ist angesichts des zunehmenden nationalen und internationalen Wettbewerbs erforderlich, da wie bekannt, andere Universitäten mit gutem Image die an der TU Berlin eingetretenen Fehlentwicklungen nicht in dem Maße mitgemacht haben.
Dabei gehen wir davon aus, daß die bisher Verantwortlichen aus den derzeitigen, hochschulpolitisch geformten Gruppen heraus diesen Richtungwechsel nicht werden bewerkstelligen können. Dazu wird einerseits dringend die Erfahrung einzelner, bewährter Repräsentanten der TU Berlin benötigt. Andererseits aber werden auch für einen neuen Anfang neue Menschen, also Kollegen gebraucht, die sich aus den geschilderten Gründen bisher aus der hochschulpolitischen Arbeit herausgehalten haben oder erst kurze Zeit an der TU Berlin sind. Dieses macht auch eine Neuorientierung der Leitungsinstitutionen der TU Berlin erforderlich.
Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Beitz, Dekan des Fachbereichs 11 Maschinenbau
und Produktionstechnik;
Prof. Dr. phil. Diether Gebert, FB 14 Wirtschaft und Management;
Prof. Dr.-Ing. Bernd Hillemeier, Fachbereich 9 Bauingenieurwesen
und Angewandte Geowissenschaften;
Prof. Dr. rer. nat. Jörn Müller, Fachbereich 5 Chemie;
Prof. Dr.-Ing. Klaus Petermann, Fachbereich 12 Elektrotechnik;
Prof. Dr. rer. nat. Helmut Schwarz, Fachbereich 5 Chemie;
Prof. Dr. rer. nat. Jörg Winkler, Dekan des Fachbereichs
3 Mathematik