Gans genau gezählt

Das Brandenburgische Umweltministerium läßt Gänse per Segelflugzeug zählen - TU-Geographen fliegen mit

Gänse scheinen liebe Tiere zu sein; jedenfalls sind sie strenge Vegetarier und tun eigentlich keiner Fliege etwas zuleide. Den Landwirten treiben sie allerdings manchmal die Zornesröte ins Gesicht: Wenn sich beispielsweise Saat- und Bleßgänse im Herbst auf den Weg zu ihren Winterquartieren machen, legen sie gerne einen Zwischenstopp auf Brandenburgischem Boden ein - und fressen dabei die Äcker kahl. Folge: Die Bauern ärgern sich, und die Landesregierung muß Entschädigungszahlungen überweisen. Per "Gänsemanagement" versucht das Brandenburgische Umweltministerium deshalb, die Freßlust der gefiederten Gäste umzuleiten. Hilfe leistet das Institut für Geographie der TU Berlin.

Seit Jahren fügen Saat- und Bleßgänse den Brandenburger Landwirten Ernteschäden zu. Wenn sie regelmäßig von ihren Sommerquartieren aus in Richtung Südosten fliegen, gehen sie scharenweise in den Seen- und Niederungslandschaften Brandenburgs nieder, fressen auf den Äckern das aufgehende Wintergetreide und hinterlassen immer wieder einen bedeutenden finanziellen Schaden. Da die Tiere nicht bejagt werden dürfen, können sich die Bauern nur bei der Landesregierung melden, von der sie dann finanziell entschädigt werden. Wie groß die Schäden genau sind, kann man nur abschätzen. Wieviel Vögel es eigentlich sind, wurde bisher nur durch ehrenamtliche Helfer geschätzt.

"GÄNSEMANAGEMENT"

Um dem teuren Gänseproblem beizukommen, ließ sich das Potsdamer Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung einiges einfallen. Im Rahmen eines "Gänsemanagements" sollen den Tieren beispielsweise besondere Futter- und Schlafstellen bereitgestellt werden, damit sie sich von den landwirtschaftlichen Nutzflächen fernhalten. Aber auch die Entschädigungen an die Landwirte wollen die Ministerialbeamten besser in den Griff bekommen. Dafür brauchen sie allerdings genaue Zahlen über die gefräßigen Gäste und deren Bevölkerungsentwicklung.
Ein Gänsezählung sollte im vergangenen Jahr dann Licht in das Zahlendunkel bringen. Mit diesem Auftrag betreute das Potsdamer Umweltministerium die Firma Stemme aus Strausberg, östlich von Berlin. Sie stellt Motorsegler her, hat in der Vergangenheit bereits mit Professor Frithjof Voss vom TU-Institut für Geographie zusammengearbeitet und Schadstoffmessungen per Flugzeug durchgeführt. Diesmal kooperierten sie wieder, um herauszufinden, ob eine Gänsezählung aus der Luft überhaupt möglich sei. Und wenn ja, kann man so etwas flächendeckend in Brandenburg einsetzen? Achim Rieß, bis vor kurzem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie, koordinierte die Untersuchung: "Eigene Hard- oder Software brauchten wir nicht entwickeln. Wir mußten aber genau überprüfen, ob die Herstellerangaben auch wirklich stimmten. Für die Zählung mußten dann viele verschiedene Parameter bestimmt werden, etwa Flughöhe, Aufnahmezeitpunkte, Brennweiten, und Überdeckungen der Aufnahmen."

Als Untersuchungsgebiet wurde der Kietzer See im Südosten Berlins ausgesucht. Geflogen wurde mit dem Spezialflugzeug Stemme S10-VC
Zu Testzwecken wählten sie den Kietzer See als Untersuchungsgebiet, ein Gewässer im Südosten Berlins, in der Nähe des Müggelsees. Dort wurde das Spezialflugzeug S10-VC der Firma Stemme eingesetzt, ein Motorsegler, der speziell für Meßflüge ausgerüstet ist. In einem Außenlastbehälter, der an der Unterseite einer Tragfläche befestigt ist, wurde ein sogenannter Thermalscanner mitgeführt. Dabei handelte es sich um ein Beobachtungsgerät mit hochauflösenden Infrarotsensoren, das speziell für militärische Beobachtungszwecke entwickelt wurde.
Da sich die Gänse bei Tageslicht nicht ruhig verhalten, mußte bei Nacht gezählt werden, während der Schlaf- und Ruhephase der Tiere. Im Schleifenflug in 600 Meter Höhe versuchten die Gänsebeobachter dann, das Gelände um den Kietzer See und die Wärmeabstrahlung der Tiere möglichst flächendeckend abzubilden. Die Bildfolgen, die der Thermalscanner von dort aufnahm, wurden digitalisiert und anschließend ausgewertet. Achim Rieß: "In der Auswertung steckte der größte Aufwand, da nicht alles automatisiert werden konnte." Beispielsweise mußte das auf Fuzzy-Algorithmen basierende Bilderkennungsprogramm zuerst "trainiert" werden, damit es Gänse als solche auf den Bildern erkannte.
Das zufriedenstellende Ergebnis der Untersuchung: Die Aufnahme mit der Infrarotkamera funktionierte einwandfrei, und die Gesamtstückzahl der Vögel konnte mit einer Genauigkeit von bis zu 95% ermittelt werden. Theoretisch ist das Zusammenspiel von Flugzeug, Kamera und Zählmethode gelungen, lautet die Einschätzung von Geograph Rieß.
Skeptisch sieht er allerdings die Chance, daß im kommenden Herbst eine flächendeckende Zählaktion in Brandenburg stattfindet. Für genaue Ergebnisse, müßte das Land nämlich innerhalb einer Woche vollständig gescannt werden: "Dazu sind zwei bis drei Flugzeuge nötig. Und man bräuchte ebensoviele Kameras, von denen es in Deutschland aber nur eine gibt." Die Kosten für solch eine Aktion, schätzt Rieß, lägen wahrscheinlich bei über einer Million Mark. Fazit: Das Verfahren arbeitet zuverlässig und kann theoretisch auch großflächig eingesetzt werden. Unwahrscheinlich ist aber, daß es sich im großen Maßstab bezahlt macht.

FLIEGENDE VOLKSZÄHLUNG

Vielleicht ist die fliegende Volkszählung in anderen Einsatzgebieten und bei anderen Tierarten effektiver. Denn mit dem Meßverfahren, das schon auf der Umweltmesse Utech im Februar in Berlin vorgestellt wurde, kann man nicht nur Gänse erkennen. Auch andere Tierarten - beispielsweise Schafe - in unterschiedlichen Regionen können so aus luftiger Höhe gezählt werden. Denn solange sich die Tiere in Größe und Wärmeabstrahlung ausreichend unterscheiden, lassen sich sogar verschiedene Arten auf ein und demselben Bild unterscheiden.

Claudia Heidenfelder, René Schönfeldt


© 6/'96 TU-Pressestelle