Wenn langnasige Europäer zu Samurais werden

Zwei Semester an einer japanischen Universität - Eindrücke aus dem Land der aufgehenden Sonne

Während des Studiums ins Ausland zu gehen, ist für viele Studierende mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden. England, Frankreich oder die USA sind häufige Stationen in studentischen Lebensläufen. Aber nur wenige fassen Japan als möglichen Studienort ins Auge. Dabei ist es nicht schwer, wie TU-Student Michael Grahe bewies: Er absolvierte zwei Semester seines Wirtschaftsingenieurstudiums in Tokio. Auf dem englischsprachigen Campus der Sophia Universität in der Stadtmitte Tokios studierte er im MBA-Programm "Comparative Culture". Möglich geworden war es durch das Direktaustauschprogramm der TU Berlin mit der Sophia Universität.

Der Aufbau des MBA-Programms entspricht vollkommen dem amerikanischen Pendant und bietet all die Annehmlichkeiten einer Privatuniversität. Dazu gehören eine erstklassige Bibliothek, ein dem neuesten Stand entsprechender Computerraum und Professoren, deren Sprechzeit sich nicht auf eine Stunde pro Woche beschränkt. Die Teilnehmerzahl ist pro Vorlesung auf maximal zwanzig Studenten begrenzt, so daß diese Veranstaltungen eher einer Gruppendiskussion ähneln.

Das Ganze kostet die "normalen" Studenten aber auch etwa 15.000 DM pro Semester und eben keine 42 DM wie bisher an der TU Berlin. Auch durch diese hohen Kosten herrscht an der Sophia Universität eine extrem angenehme Studienatmosphäre: Jeder Student möchte lernen, und die Professoren unterstützen dies, so gut es geht.

NOCH NIE SOVIEL GELERNT

Dafür verlangen die Professoren allerdings auch einiges. Ein wöchentliches Lesepensum von 1.000 Seiten pro Kurs sind keine Seltenheit. Dazu kommt dann noch die Arbeit für Präsentationen und Seminararbeiten, die hauptsächlich die Klausuren ersetzen. Für mein Studium in Deutschland mußte ich jedenfalls noch nie so lange und so intensiv Arbeit investieren. Andererseits habe ich auch noch nie soviel in zwei Semestern gelernt.

Auf dem japanischsprachigen Campus spielt sich das Hauptleben des universitären Daseins ab. Dort befinden sich der Buchladen, die Hauptbibliothek, die Mensen und auch die Sportclubs, die den Hauptbestandteil des japanischen Studentenlebens bilden.

DIE LÄNGSTEN FERIEN

Von Geburt an werden japanische Kinder darauf trainiert, an die "richtige" Universität zu gelangen. Haben sie dieses Ziel erreicht, beginnen die "längsten Ferien" ihres Lebens. Diese neugewonnene Freizeit genießen die japanischen Studenten hauptsächlich in den erwähnten Sportclubs. Dort wird so ziemlich alles angeboten, was die Sportvielfalt zu bieten hat. Neben den uns bekannten Sportarten sind natürlich auch alle asiatischen Varianten vertreten, wie zum Beispiel Kendo, Sumo usw. Trainiert wird täglich, was nicht nur das außergewöhnlich hohe Niveau der Teilnehmer, sondern auch den großen Gruppenzusammenhalt erklärt. Die gemeinsame Freizeitgestaltung beschränkt sich aber nicht nur auf das Training, sondern setzt sich auch am Wochenende in einem "Training" anderer Art fort ...

KONTAKTE UND SPORTCLUBS

Durch die Sportclubs der Universität hatte ich jedenfalls kaum Probleme, schnell gleichaltrige Japaner kennenzulernen und damit Kontakt zur heimischen Bevölkerung zu knüpfen. So kommt man dann auch eher früher als später in den Genuß, die Ausgehgewohnheiten japanischer Studenten kennenzulernen. Diese führen einen zuerst in eine "Isakaja", was nichts anderes als eine Kneipe ist. Besonders die "Isakajas", die von Studenten heimgesucht werden, bieten ein "nomihodai" an. Das bedeutet, man bezahlt einen Festpreis und kann dann zwei Stunden lang soviel trinken, wie man will und kann.

Trinkfestigkeit ist für junge männliche Japaner noch immer ein Synonym für Männlichkeit, und bei einer solchen Gelegenheit muß man dieselbe natürlich beweisen. Das führt dann naturgemäß dazu, daß manche über ihren Durst trinken, besonders wenn auch noch ein Gaijin (Ausländer) dabei ist. Die Japaner wollen einem Deutschen immer zeigen, daß auch sie dem Münchner Oktoberfest gewachsen sein würden, was bei übermäßigem Genuß schon mal in die Hose gehen kann.

Sushi satt - auch ein Japan-Erlebnis
Nach diesen ausgelassenen zwei Stunden geht man noch ein wenig Karaoke-Singen oder nach all dem Vorangegangenen eher "Lallen". Dies ist nicht immer das, was man hier in Deutschland darunter versteht. In Japan mieten sich zum Karaoke-Singen sechs bis acht Personen eine Karaoke-Box. Das ist ein kleines Zimmer, in dem nichts anderes als ein Sofa, ein Tisch und eine Karaokemaschine steht. Dort singt man sich gegenseitig Lieder vor und, wenn alle nicht mehr können, geht oder schwankt man schließlich volltrunken nach Hause.

Als europäischer Ausländer ist man in Japan halt immer etwas Besonderes. So besuchte ich einmal einen japanischen Vergnügungspark, die Edo Mura (Edo = mittelalterliche Zeitperiode, Mura = Dorf). Dort gab es neben unzähligen Souvenir-Shops auch ein kleines traditionelles Theater, das natürlich auf meinem Touri-Programm stand. Da die mehr un- als freiwillige Zuschauerintegration augenscheinlich keinem deutschen Monopol unterliegt, wurde auch in dieser künstlich-altertümlichen Kulisse nach einem "schauspielbegierigen" Zuschauer Ausschau gehalten. Sobald das heraus war, schauten alle Zuschauer auf mich, den einzigen langnasigen Ausländer im Publikum. So wurde ich weniger freiwillig auf die Bühne gedrängt und war dort mit einer unglaublich unpassenden Samurai-Perücke ein Objekt der allgemeinen Belustigung. Ich hatte allerdings auch meinen Spaß, da ich so nette Photos von mir und dem Ensemble in einer Samurai-Uniform habe.

Als europäischer Ausländer ist man in Japan immer etwas Besonderes - diese Erfahrung machte Michael Grahe auch in einem Vergnügungspark
Ich kann diesen Austausch nur empfehlen, da er einem die Möglichkeit bietet, einmal mitzuerleben, wie man auch "anders" studieren kann. Dieses "anders" bezieht sich aber eben nicht nur auf das Studieren sondern auf das gesamte Leben. Vom Studium her brachte mir der Austausch die Anerkennung der beiden BWL-Fächer, sowie der Studienarbeit. Vom "Leben" her brachte es mir viel mehr.

Der japanische Lebensstil ist eben nicht mit dem europäischen zu vergleichen, es ist einfach alles anders, und man lernt schnell, das zu akzeptieren. Hinzu kommt noch die Internationalität der Studenten und Professoren an der Sophia: So ziemlich alle asiatischen Länder sind vertreten und darüber hinaus noch viele andere Länder dieser Erde. Die Sophia Universität ist wirklich eine multikulturelle Insel. Dadurch lernt man auch viel über sich und seinen eigenen Lebensstil kennen, und man fängt an, auch mal seine europäischen Wertvorstellungen zu hinterfragen. Vor allem habe ich festgestellt, daß ich Europäer bin: Im Vergleich mit Asiaten und Amerikanern sind sich alle Europäer doch sehr ähnlich und haben den gleichen kulturellen Hintergrund.

Michael Grahe


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