Die Qual der Wahl beim Material

TU-Wissenschaftler auf der Suche nach den richtigen Werkstoffen

Die Materialauswahl ist eines der klassischen Probleme bei der Entwicklung neuer Produkte, seien es Küchengeräte, Autos oder Hochgeschwindigkeitszüge. Autositze beispielsweise müssen starken mechanischen Beanspruchungen standhalten, gleichzeitig müssen sie ergonomisch und möglichst leicht sein. Um herauszufinden, welcher Werkstoff dafür ideal ist, wenden Firmen viel Zeit und Geld auf. Die Auswahl ist ja auch riesengroß: Insbesondere bei Verbundwerkstoffen gibt es eine unüberschaubare Zahl von Kombinationsmöglichkeiten. Orientierung in diesem Dickicht bietet ein Forschungsprojekt, das federführend am TU-Institut für Technischen Umweltschutz angesiedelt ist. Es verringert nicht nur den Aufwand bei der Produktentwicklung, und stößt die Entwicklung neuer Materialien an, sondern berücksichtigt auch ökologische Gesichtspunkte.



"Bei der traditionellen Materialauswahl orientiert sich der Entwickler häufig an Materialien, die bereits genutzt werden, und versucht, diese für die konkrete Anwendung zu verbessern beziehungsweise ähnliche Materialien zu modifizieren", erklärt Günter Fleischer, Professor am Fachgebiet Abfallvermeidung der TU Berlin. Diese Methode geht zwar von bewährten Materialien aus, vernachlässigt aber neue Werkstoffe oder Kombinationen. "Wer für ein Bauteil gute Erfahrungen mit Metall gemacht hat, wird nur selten etwas ganz anderes verwenden", so Fleischer. Werde allerdings mal etwas neues ausprobiert, sei das häufig teuer, langwierig und mit Fehlentwicklungen verbunden.

Aus diesem Grund initiierte der TU-Professor vor drei Jahren ein Forschungsprojekt mit dem Titel "Systematische Auswahlkriterien für die Entwicklung von Verbundwerkstoffen unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse". Mit dabei sind fünf weitere Kooperationspartner - zwei Fraunhofer-Institute, zwei universitäre Forschungsgruppen und eine private Beratungsgesellschaft.

Was sie in den vergangenen zwei Jahren gemeinsam entwickelt haben, stellt die traditionelle Materialauswahl auf den Kopf: Während man bisher "bottom-up" arbeitete, also von einer bestehenden Lösung ausging, schlagen die Wissenschaftler eine "top-down"-Methode vor. Wulf-Peter Schmidt, neben Ute Schiller und Gerald Rebitzer, einer von drei wissenschaftlichen Mitarbeitern der TU-Projektgruppe, beschreibt das so: "Wir wollen so tun, als ob wir gar nicht wüßten, was es bereits an geeigneten Materialien gibt. Statt dessen werden aus allen bestehenden und denkbaren Werkstoffen systematisch die geeigneten herausgearbeitet." Diese neue Methode trägt den Namen "Entwicklungsbegleitendes Instrument für umwelt- und recyclingorientierte Materiallösungen", kurz: euroMat.

Eine Materialauswahl à la euroMat, beispielsweise für einen Kühlschrank, beginnt so: Die Entwickler legen in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern einen "Anforderungskatalog" fest, in dem die gewünschten Gebrauchseigenschaften des Produkts aufgeführt sind. Sie werden für eine zukünftige Kühlschranktür durch eine Reihe technischer Kennwerte beschrieben, z. B. durch Biegefestigkeit, Wärmeleitfähigkeit, Lebensmittelunbedenklichkeit und Diffusionsdichtigkeit gegen Wasserdampf.

SCHRITT FÜR SCHRITT

Mit diesen Vorgaben suchen die euroMat-Fachleute in der Gesamtheit der bekannten und denkbaren Werkstoffe nach geeigneten Materialien. Zunächst grenzen sie etwa Werkstoffklassen wie Keramik, Metalle oder Kunststoffe ein. Dann verfeinern sie diese Auswahl zu einer Gruppe von Materialien und können über weitere Schritte bis hin zum Werkstoff eines bestimmten Herstellers beziehungsweise zu einem neuentwickelten Werkstoffprototypen gelangen. Diese Verfahrensweise nennen die Wissenschaftler iteratives Screening.

Bei jedem der maximal fünf Iterationen werden die Materialien nach bestimmten Kriterien bewertet. Technische, wirtschaftliche und ökologische Eigenschaften werden berücksichtigt, ebenso Belastungen am Arbeitsplatz bei Fertigung und Recycling sowie Kreislaufeigenschaften. Dazu werden Methoden der Ökobilanz, des "Life Cycle Costings" sowie der Arbeitswissenschaft herangezogen.

Arbeitsmittel der euroMat-Mitarbeiter sind theoretische Modelle und Dokumentationen, in denen sie zahlreiche Werkstoffe mit ihren Eigenschaften und Kennwerten erfaßt haben. Derzeit sind die Daten noch in schriftlicher Form niedergelegt. "In der nächsten Projektphase wollen wir sie dann auf einen Rechner bringen und mit Hilfe von Prognosemethoden verknüpfen", erläutert Projektmitarbeiterin Ute Schiller. Außerdem muß die Datenbasis ständig aktualisiert werden, denn es sind bei weitem noch nicht alle denkbaren Werkstoffe und Informationen vorhanden. Diplom-Ingenieurin Schiller: "Wir recherchieren auch in Handbüchern und kommerziellen Datenbanken und arbeiten mit Herstellern zusammen."

GEMEINSAME GESPRÄCHE

Um die Materialauswahl nach jedem Auswahlschritt weiter einzugrenzen, setzen sich die Auftraggeber gemeinsam mit den euroMat-Experten zusammen. Die Produktentwickler klären dabei, welche der teilweise einander gegenläufigen Kriterien ihnen wichtig sind oder ob sie bereit sind, eigene Entwicklungssarbeit zu investieren. Denn: "Mit euroMat kann strategisch bestimmt werden, wo es sich lohnt zu forschen", erklärt Wulf-Peter Schmidt. Trifft man etwa auf eine Materialgruppe, die in fast allen Anforderungsbereichen optimal ist, aber in einem Bereich versagt, kann man überlegen, ob dieser Nachteil durch Forschung und Entwicklung zu beheben ist.

Manchmal ist das aber gar nicht nötig. Denn mit der euroMat-Methode kommt man auch auf bereits existierende Materialien, die den Entwicklern bisher nicht in den Sinn gekommen wären. "Bei einer Kühlschrank-Isolierung betrachten wir zum Beispiel nicht nur Polyurethan-Schäume, sondern auch Schäume aus anderen Kunststoffen oder auch Naturfasern oder Kork", erläutert Gerald Rebitzer. So kann sich etwa ein Material durchsetzen, das geringfügig schlechter isoliert und damit im Betrieb etwas mehr Energie kostet als andere Werkstoffe. "Wenn es aber in der Produktion bedeutend weniger Energie verbraucht, kann es im Endeffekt trotzdem besser abschneiden und durch einen geringeren Preis auch für den Konsumenten preiswerter werden", rechnet Rebitzer vor. Das erklärt sich dadurch, daß die euroMat-Experten den gesamten Lebenszyklus eines Produkts und seiner Materialien betrachten, das heißt von der Entwicklung über Produktion und Nutzung bis hin zur Entsorgung.

Ein Unternehmen, das euroMat nutzt, kann "ganz klare Wettbewerbsvorteile" erwarten, schätzt Professor Fleischer die Bedeutung der neuen Methode ein. Neue, unkonventionelle Lösungen, weniger Fehlentwicklungen und weniger Werkstoffprüfungen, bessere technische Eigenschaften und eine bessere Ökobilanz - das sind die Pluspunkte des neuen Vorgehens, das insbesondere den deutschen Unternehmen helfen soll, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Aus diesem Grund fördert das Bundesforschungsministerium das Projekt seit Ende 1994 im Rahmen des Programms "Strategien für die Produktion des 21. Jahrhunderts" mit insgesamt sechs Millionen Mark.

Um das euroMat-Konzept der Bewährungsprobe zu unterziehen, helfen die euroMat-Mitarbeiter derzeit bei elf unterschiedlichen Entwicklungsprojekten. Gemeinsam mit Black & Decker wird etwa an einem Werkzeugkoffer gearbeitet, AEG kooperiert in einem Kühlschrank-Projekt, und die Automobil-Firma Sachsenring läßt sich bei der Entwicklung eines Leichtbaufahrzeugs unterstützen.

René Schönfeldt


Verbundwerkstoffe

Verbundwerkstoffe sind Werkstoffe, die aus Kombinationen unterschiedlicher Materialien bestehen. Als Bestandteile kommen hauptsächlich Metalle, Holz, Gläser, Kunststoffe und keramische Werkstoffe in Frage. Sie werden in Form von Schicht-, Durchdringungs-, Faser- oder Teilchenverbunden verarbeitet. Bekannte Beispiele sind Spanplatten, Stahlbetonbauten, Verbundglasscheiben und Skier. Im allgemeinen haben Verbundwerkstoffe einen guten Ruf: Mit ihnen ist es möglich, hohe Materialanforderunge wie Festigkeit und Leichtigkeit - etwa im Flugzeugbau - zu vereinen. Häufig wird jedoch eingewendet, sie seien wegen potentieller Schwierigkeiten beim Recycling nicht umweltgerecht.


© 11/'96 TU-Pressestelle [ ]