"Eine nulle Epoche"TU-Wissenschaftler untersuchten nationale Minderwertigkeitsgefühle der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert Ein nationales Minderwertigkeitsbewußtsein prägt die deutsche Literatur des ganzen 18. Jahrhunderts. "Eine nulle Epoche" - so lautet Goethes vernichtendes Urteil über die ersten Jahrzehnte. Und in der Tat: Der kulturellen Übermacht englischer und, vor allem, französischer Vorbilder fühlten sich die Literaten der frühen Aufklärung selbst kaum gewachsen. Die Weimarer Klassik kehrte, so scheint es, die Verhältnisse um. Doch auch noch ihr ist ein Unterlegenheitsgefühl im Vergleich mit Westeuropa tief eingezeichnet. Wie man im 18. Jahrhundert die eigene Nation literarisch erfaßte und wie aus dem Boden nationaler Traumata die klassische und frühromantische Literatur entstehen konnte, untersuchte ein Forschungsprojekt am Institut für Deutsche Philologie mit dem Titel "Kosmopolitismus, Patriotismus und Nationalgeist in den deutschsprachigen Literaturen (1750-1860)".
Für einen kulturellen Aufschwung in der Zeit der Aufklärung
waren die deutschen Voraussetzungen im Vergleich mit den westeuropäischen
Vorbild-Nationen denkbar ungünstig. In England und Frankreich
hatten sich politisch zentralisierte Staaten gebildet, in deren
Mittelpunkt glanzvolle Höfe und eine große Metropole
standen. Diese "Infrastruktur" bot die besten Bedingungen
für Literatur, Kunst und Musik. Deutschland dagegen bestand
aus zahlreichen mittleren und kleinen Territorien mit jeweils
eigenen Rechtstraditionen. Es verfügte weder über ein
staatliches noch über ein kulturelles Zentrum; Wien konnte
die Rolle einer "Kulturmetropole" ebensowenig übernehmen
wie Berlin. Mehr noch: Die Hofkultur orientierte sich weithin
an Frankreich; mit wenigen rühmlichen Ausnahmen fielen deshalb
die Fürsten als Literaturförderer aus. Neid, Zurücksetzungsgefühle und Selbstaufwertungsbemühungen nahmen plastische Gestalt in nationalen Stereotypen an, wie sie die Wissenschaftler in Quellen aus dem ganzen Aufklärungsjahrhundert nachweisen konnten. "Die Deutschen gelten als gesellschaftlich ungebildet, ungehobelt, pedantisch, phlegmatisch, aber auch als gelehrt, gründlich und ehrlich; die Franzosen dagegen als witzig, geschmackssicher, gesellschaftserfahren, angenehm im Umgang, aber auch als oberflächlich und leichtfertig", erklärt Martin Disselkamp. Wie reagierte die deutschsprachige Literatur ab 1750 auf solche Herausforderungen? Diese Frage versuchte das TU-Forschungsprojekt am Institut für Deutsche Philologie zu klären. Unter der Leitung von Prof. Dr. Conrad Wiedemann sichteten Cord Berghahn, Dr. Martin Disselkamp, Regina Görn, Dr. Kai Kauffmann, Karin Meßlinger und Jörg Schmidt ein breites Spektrum an Quellen: unter anderem Zeitschriften, Reisebeschreibungen, Staatsbeschreibungen und das Gesamtwerk einer Reihe von Autoren, darunter Lessing, Klopstock, Herder, Goethe und Schiller.
"Entscheidend für die Neuansätze nach 1750 ist
die Rezeption der in England und Frankreich entwickelten 'Nationalgeist'-Theorie,
deren avanciertester Vertreter Montesquieu mit seinem Werk 'De
l'esprit des lois' - 'Vom Geist der Gesetze' war", erklärt
Projektmitarbeiter Martin Disselkamp. Diesem Buch entnahmen die
Zeitgenossen, daß die verschiedenen Nationen jeweils individuelle
Eigenschaften besäßen, die durch Klima, Sitten, Religion
und Gesetze bestimmt würden. "Vor diesem Hintergrund
konnte es nicht mehr darauf ankommen, sich an fremden Nationen
zu messen und deren literarische Standards nachzuahmen. Statt
dessen ging es jetzt darum, ein Bewußtsein für die
spezifisch eigenen Lebensbedingungen zu entwickeln und eine Literatur
zu schaffen, die diese individuell nationalen Voraussetzungen
berücksichtigt." | |
Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) | |
Ein Beispiel liefert Johann Joachim Winckelmann (1717-1768). Eine
Kunstblüte war ihm zufolge nur durch die Nachahmung der "Alten",
nämlich der griechisch-antiken Kunst zu erreichen. Zum Vorbild
für das politisch zerfallende Deutschland wurde damit das
staatlich zersplitterte, künstlerisch aber produktive Griechenland.
Disselkamp: "Bei Winckelmann deutet sich so, vielleicht zum
ersten mal, die Idee einer unsichtbaren deutschen 'Kulturnation'
als Gegenentwurf zur übermächtigen französischen
'Staatsnation' an." | |
Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) | |
Einen anderen Weg schlug Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803)
ein. "Er suchte nach nationalen Identifikationsmöglichkeiten
durch eine Besinnung auf die nationale, wenngleich fiktive Vorgeschichte",
so die TU-Literaturwissenschaftler. Seine Bemühungen um eine
Wiederbelebung germanischer Bardengesänge inspirierten eine
ganze Dichtergruppierung der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts,
den "Göttinger Hainbund", zum Bardenton und zu
antifranzösisch-patriotischer Lyrik. Zwar gab es in der literaturwissenschaftlichen Forschung schon Ansätze zu einer Beschäftigung mit der nationalen Selbstreflexion der Schriftsteller. Dennoch betrat das TU-Forschungsprojekt Neuland. Disselkamp: "Wie obsessiv, tiefgreifend und aspektreich das gesamte 18. Jahrhundert sich mit der Frage der nationalen Identität beschäftigte, hat sich die Literaturwissenschaft bisher nicht klargemacht." In diesem Sinn deckt das Forschungsprojekt die "nationale Krankheitsgeschichte" auf, die sich in der Literatur der späten Aufklärung und der Klassik verbirgt. René Schönfeldt
Differenzierung und Integration
Das TU-Projekt "Kosmopolitismus, Patriotismus und Nationalgeist
in den deutschsprachigen Literaturen (1750-1860)" ist kein
einzelnes Forschungsvorhaben. Es ist eins von knapp vierzig Vorhaben
des Forschungsschwerpunkts "Differenzierung und Integration.
Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozeß
der Modernisierung". Dabei handelt es sich um das bisher
größte geisteswissenschaftliche Gemeinschaftsvorhaben,
das gemeinsam von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG),
dem Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen
Forschung (FWF) und vom Schweizerischen Nationalfond (SNF) finanziert
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