Eine fleißige Bäuerin oder ein Angestellter aus der Mittelschicht?

Untersuchung an der TU Berlin zum Menschenbild der amtlichen Verkehrszeichen

Tausendmal gesehen, tausendmal ist nichts geschehen. Die Menschen schauen jeden Tag mehrfach darauf und richten sich sogar manchmal danach, aber Gedanken haben sich die meisten darüber wahrscheinlich noch nicht gemacht. Verkehrsschilder!! Überall stehen sie herum und teilen uns die unterschiedlichsten Dinge mit: Verbote, Gebote, Gefahrenhinweise usw. Die Informationen werden mit den verschiedensten Symbolen vermittelt, deren Spektrum von einem gelben Viereck auf weißem Grund (für Vorfahrtstraße ) bis hin zu einem Auto, das von einer Mauer ins Wasser stürzt (Zeichen für "Ufer") reicht.

In diesem großen Angebot gibt es auch zahlreiche Verkehrsschilder, auf denen Abbildungen von Menschen zu sehen sind und die u. a. vor Fußgängern, vor spielenden Kindern oder vor Straßenarbeitern warnen, Fußgängern den Durchgang verbieten oder auf Wanderwege hinweisen. Diese Verkehrszeichen, auf denen Bildsymbole (sog. Piktogramme) von Menschen dargestellt sind, waren Gegenstand einer Untersuchung, die von der Arbeitsstelle für Semiotik der TU Berlin gemeinsam mit dem Departement of Psychology der Georgetown University, Washington, USA durchgeführt wurde.

Fußgängerüberwege in Österrich ...
"Welches Menschenbild wird im öffentlichen Leben des Straßenverkehrs vermittelt", das wollten die Semiotiker wissen. Ausgewählt haben sie dafür ein altbekanntes Schild - das Hinweisschild für einen Fußgängerüberweg. Da an dem Versuch deutsche und amerikanische Versuchspersonen teilnahmen, wurden deutsche und amerikanische Schilder ausgelassen. Man präsentierte den insgesamt 150 Versuchspersonen ein österreichisches, ein jugoslawisches, ein französisches und ein italienisches Verkehrszeichen. Während sowohl auf dem österreichischen als auch auf dem jugoslawischen Schild halbwegs naturgetreue Figuren - der Semiotiker sagt dazu "pleromatische ikonische Zeichen" - die Straße überqueren, sind es in Italien und Frankreich eher "schematische ikonische Zeichen", die eiligen Schrittes über den Fußgängerüberweg laufen. Die Versuchspersonen sollten Fragen zum Geschlecht, zur sozialen Stellung und zur Persönlichkeit dieser Figuren beantworten. Handelt es sich bei der französischen Figur um eine 60jährige, fleißige, politisch rechte Bäuerin oder eher um einen zerstreuten Angestellten aus der Mittelschicht im Alter zwischen 21 und 40 Jahren?
... im ehemaligen Jugoslawien ...
DER PROTOTYPISCHE FUSSGÄNGER

Einig waren sich fast alle in der Frage des Geschlechts - der prototypische Fußgänger in Österreich, im ehemaligen Jugoslawien, in Frankreich und in Italien wird als Mann wahrgenommen. Dieser Mann ist unter 40 Jahre alt und gehört zur Mittelschicht. Herausgestellt hat sich bei der Untersuchung auch, daß sich die Straßenschild-Gestalter in Frankreich offensichtlich etwas im Maßstab vertan haben. Von allen abgebildeten Figuren ist die französische am kleinsten und der Anteil der Kopfgröße gegenüber der gesamten Körpergröße läßt auf ein vierjähriges Kind schließen, das ganz allein die Straße überquert. Waren die meisten Versuchspersonen bei den ausführlicher dargestellten Figuren in Österreich und im ehem. Jugoslawien teilweise noch in der Lage, einige charakteristische Persönlichkeitsmerkmale anzugeben, war dies bei den stark schematischen französischen und italienischen Figuren nicht mehr möglich. Generell ließ sich feststellen: Je schematischer der Fußgänger dargestellt ist, desto häufiger werden "Weiß nicht"-Antworten gegeben.

...in Frankreich ...
Wirft man einen kurzen Blick auf die Historie der Straßenschilder, läßt sich erkennen, daß der Detailreichtum im Laufe der Jahre abgenommen hat. Wurde z. B. auf Radfahrer zunächst durch eine Abbildung eines radelnden Menschen hingewiesen, geschieht dies heute nur noch mit einem Rad ohne Radler. Auf Fußgänger wollen die Straßenschild-Designer durch die Darstellung eines geschlechtslosen Erwachsenen mit einem geschlechtslosen Kind aufmerksam machen. Trotzdem, so ist in der Untersuchung festgestellt worden, übertragen die Betrachter doch noch bestimmte Vorstellungen von Geschlecht oder Alter auf diese Figuren. Deshalb ist es fraglich, ob eine solche Reduktion überhaupt sinnvoll ist bezogen auf die Aufgaben, die ein Straßenschild erfüllen soll, oder ob nicht vielleicht eine detailliertere Figur lebhafter wahrgenommen wird als ein Strichmännchen. Wenn dies der Fall ist, müssen sich die Fachleute Gedanken machen, welche Details wichtig sind und welche weggelassen werden können. Vielleicht erkennen wir irgendwann einmal auf einem Fußgänger-Hinweisschild einen alten Bekannten. Bleibt abzuwarten, was sich im Schilderwald noch alles zutragen wird.
...und in Italien ...
Der Untersuchungsbericht ist veröffentlicht in der Zeitschrift für Semiotik, die von Prof. Dr. Roland Posner vom Institut für Linguistik der TU Berlin herausgegeben wird und der an der Untersuchung zu den Menschenbildern auf Straßenschildern beteiligt war.
"Kommunikation im Straßenverkehr" ist der Schwerpunkt des 17. Zeitschriftenbandes dieser Reihe, der bereits vergangenes Jahr erschien. Vieles, was uns im Straßenverkehr widerfährt, ist hier wissenschaftlich unter die Lupe genommen worden. Hardarik Blühdorn von der Universität Sao Paulo berichtet z. B. über Autoaufkleber als Kommunikationsmittel im Straßenverkehr unter wirtschaftlicher, technologischer und semiotischer Perspektive. Mit Beleidigungen im Straßenverkehr beschäftigt sich Anne Hahn vom Allgemeinen Deutschen Automobil-Club, und Dagmar Schmauks hat den Straßenverkehr verlassen und sich den deutschen Bahnhöfen zugewandt. In ihrem Beitrag geht es um die "Semiotische Struktur der Wagenstandsanzeiger von Zügen auf deutschen Bahnhöfen". Insgesamt sind zwölf Artikel veröffentlicht. Für den Herausgeber soll der Band nicht nur ein Forum für Semiotiker sein, vielmehr soll die Ausgabe auch eine Brücke schlagen zwischen Technik-, Sozial- und Geisteswissenschaften.

Bettina Weniger


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