FORSCHUNGKinder als KommunikationsagentenTagung "Marketing und Verbraucherbildung" in Kooperation mit dem Institut für Arbeitslehre - Werbung ist für Heranwachsende nur schwer durchschaubar Kinder und Jugendliche sind eine attraktive und kaufkräftige Zielgruppe für Marketingstrategen. In nahezu allen Lebensbereichen sind sie dem Konsumdruck des Marketing ausgesetzt: am Frühstückstisch, auf dem Schulhof, im Sportverein und vor allem beim Fernsehen. Und die Werbebotschaften kommen an: Noch nie war es für Heranwachsende so wichtig wie heute, welchen Markennamen Jeans, Sweatshirts, Turnschuhe, Fahrräder oder Inline-Skates tragen. Zu diesem Problemfeld referierten und diskutierten Konsumforscher, Vertreter von Bildungseinrichtungen, Praktiker von Verbraucherorganisationen u. a. im Rahmen der Europäischen Tagung "Marketing und Verbraucherbildung" vom 29. Januar bis 1. Februar 1997 in Berlin. Die von der Europäischen Kommission finanziell unterstützte Tagung wurde von der Stiftung Verbraucherinstitut, dem Institut für Arbeitslehre der TU Berlin und der Verbraucher-Zentrale Nordrhein-Westfalen organisiert. Die Teilnehmer stimmten überein, daß innerhalb der EU allgemeinverbindliche Standards für das Marketing gegenüber Kindern und Jugendlichen notwendig seien. Verstärkte Anstrengungen zur Implementation von Verbraucherbildung in Erziehungsprogramme, Lehrpläne und Studienordnungen auf allen Stufen der nationalen Bildungssysteme sollen ein kritisches Bewußtsein und die Entwicklung von Reaktanz gegenüber der Beeinflussung durch Marketingmaßnahmen flankieren. FÜNF MILLIARDEN TASCHENGELD Kinder und Jugendliche sind aus einer Vielzahl von Gründen die attraktivste Zielgruppe für Verkaufsförderung. Zum einen greifen sie kaufanregende Werbeappelle auf und bringen sie in der Familie zur Sprache, dienen also gleichsam als Kommunikationsagenten des Marketing; zum anderen stellen sie einen Wirtschaftsfaktor mit erheblicher Kaufkraft dar. Auf mehr als 5 Milliarden DM schätzen Experten die Summe, über die Sieben- bis Zwölfjährige allein in Deutschland als Taschengeld disponieren. In der Altersgruppe von 6 bis 17 Jahren sind rund 20 Milliarden frei verfügbar. Während Erwachsene in der Regel kritisch mit der bunten Werbewelt umgehen, haben die Werbemacher bei Kindern leichtes Spiel. Nach einer auf der Tagung vorgestellten Untersuchung des Europäischen Büros der Verbraucherorganisationen (BEUC) und des niederländischen Consumentenbond sind Kinder praktisch erst mit 10 Jahren imstande, den wirtschaftlichen Zweck der Fernsehwerbung zu verstehen und sie von Programmteilen zu unterscheiden. Für Heranwachsende schwer zu durchschauen ist das Mix verschiedener Marketinginstrumente, mit dem die Geld- und Kreditinstitute den für die Akquisition von Neukunden wichtigen Jugendmarkt umwerben. Die Marketingpraxis beschränkt sich dabei nicht auf die Vermarktung von Bankprodukten und Finanzdienstleistungen, sondern durchdringt mit vertrauensbildenden Maßnahmen immer mehr Lebensbereiche und transportiert auch problematische Leitbilder wie den sorglosen Umgang mit Geld, die sofortige Erfüllung von Wünschen und eine fahrlässige Einstellung zur Verschuldung. SUPERSCHLANKE MODELS Ein weiteres Problemfeld sehen die Teilnehmer in der hemmungslosen Inszenierung von Körpern in den Werbebildern. Superschlanke Models verstärken das Barbie-Syndrom, den Diätenwahn und Eßstörungen wie Anorexie (Magersucht), Bulimie (Brechsucht) und Adipositas, vor allem bei weiblichen Teenagern. Bei männlichen Jugendlichen ist ein besorgniserregender Anstieg des Freizeit-Dopings zu beobachten. Fachleute schätzen die Gesamtzahl jugendlicher Konsumenten von Body-Drogen, einschließlich anaboler Steroide, allein in Deutschland auf 100000. Durch die Zurschaustellung muskulöser Models und Modellathleten fördert die Werbung diesen gesundheitsgefährlichen Trend. Dringenden Regelungsbedarf gibt es nach den Diskussionen der Tagungsteilnehmer bei Marketinginstrumenten wie Direktvertrieb und Kinderclubs. Besondere Vorsicht ist zudem bei Sponsoraktivitäten in Schulen geboten. Hier sind europaweit gesetzliche Rahmenbedingungen zur Eindämmung und Begrenzung vonnöten. Im pädagogischen Bereich wird eine neue Initiative zur handlungsorientierten, praxisnahen Erziehung von Kindern und Jugendlichen in Kooperation von Lehrern und Eltern gefordert. Die Teilnehmer der Europäischen Tagung wollen ihre seit 1993 im European Network of Consumer Educators (ENCE) organisierten Zusammenarbeit bei gemeinsamen europäischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten, Studien, Informations-, Aufklärungs- und Bildungskampagnen verstärken. An den Nordic Council of Ministers, den bisherigen Förderer des ENCE, und an die Europäische Kommission wurde appelliert, das Verbraucherrecht auf Information und Bildung durch geeignete Maßnahmen auch weiterhin zu unterstützen.
Prof. Dr. Heiko Steffens, © 4/'97 TU-Pressestelle [ ] |